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Wahlqual 2025: Hilfe, wen soll ich wählen?
Wer den Erfolg der AfD verstehen will, sollte zur Abwechslung mal über die anderen reden: Überlegungen eines Wechselwählers
Ich bin ein pflichtbewusster Staatsbürger. Noch nie habe ich eine Wahl geschwänzt. Selbst wenn es nur um den Ortsvorsteher ging (also den Grüßaugust, der im Stadtteil an runden Geburtstagen Blumensträuße überreicht), eilte ich zum Wahllokal. Und bei Kommunalwahlen pflügte ich gewissenhaft durch kilometerlange Kandidatenlisten – die 60 Kreuzchen wollten wohlüberlegt verteilt werden.
Die Königsdisziplin aber war die Bundestagswahl. Bereits mein Opa hatte mit seiner Stimme dazu beigetragen, dass in der Bundesrepublik »Freiheit statt Sozialismus« herrschte (CDU, 1976). Später lag es in meiner Hand, ob der Kanzler nur »vieles besser« machte (SPD, 1998) oder »Weltklasse für Deutschland« bot (CDU, 1998).
Manchmal fiel die Entscheidung leicht. Zum Beispiel 1987. In der Elefantenrunde vor der Bundestagswahl zoffte sich die angriffslustige Jutta Ditfurth (Grüne) derart wüst mit dem cholerischen Franz-Josef Strauß (CSU), dass dieser kurz vorm Herzinfarkt stand. Natürlich wählte ich danach Grün – besseres Politentertainment habe ich nie wieder erlebt.
Aber in der Regel war die Entscheidungsfindung weniger elektrisierend. Als Rudolf Scharping 1994 Kanzler werden wollte, wählte ich aus schierer Verzweiflung Helmut Kohl. Auch 2021 war es ein Kreuz mit dem Kreuzchen. Um einen Aachener Karnevalsprinzen zu verhindern, der nicht weiß, wie man sich auf Trauerfeiern benimmt, nahm ich sogar Olaf Scholz in Kauf. So testete ich die eigenen Schmerzgrenzen aus.
Diese sind 2025 überschritten. Die SPD mag pflichtschuldig Wahlkampf führen, aber keine Kampagne der Welt wird das nahende Desaster abwenden können. Ich bin jetzt schon gespannt, wie sich die SPD ihr verdientes Wahldebakel schönzureden versucht. Vermutlich wird man die Schuld komplett auf Olaf Scholz abwälzen. Der stets abwesend wirkende Kanzler, der drei quälend lange Jahre eine Politik der eingeschlafenen Hand betrieb, gibt den idealen Sündenbock ab.
Ungerecht ist es dennoch. Denn die Selbstzerstörung der SPD ist ein Gemeinschaftswerk. Wählervergraul-Funktionäre wie Saskia Esken und Ralf Stegner sorgen mit jedem miesepetrigen öffentlichen Auftritt dafür, dass immer mehr Menschen die Frage nach der Wählbarkeit der SPD mit »Nie wieder ist jetzt!« beantworten.
Solche Nöte sind den Grünen fremd. Ihre Wählerinnen und Wähler sind in Langmut und Duldsamkeit geübt. Sie haben akzeptiert, dass aus einer pazifistisch-linken Partei eine bellizistisch-wirtschaftsfreundliche geworden ist. Doch solange die Grünen am hyggeligen Credo »Schafft zwei, drei, viele Bullerbüs!« festhalten, sieht ihre Wählerschaft sogar über das geistige Irrläufertum einer Claudia Roth hinweg, die einen Antisemiten selbst dann nicht erkennt, wenn er vor ihr steht. Unvorstellbar, dass diese Partei mal die politische Heimat von intellektuellen Schwergewichten wie Thomas Ebermann und Rainer Trampert war. Und weit und breit ist keine Jutta Ditfurth in Sicht.
Aber auch die traditionellen bürgerlichen Parteien leiden unter Charisma- und Kompetenzschwund. Wer mit rhetorischen Feuerwerkskörpern wie Heiner Geißler und Franz-Josef Strauß groß geworden ist, wird angesichts des aktuellen Spitzenpersonals depressiv. Wenn Friedrich Merz und Markus Söder das Beste sein sollen, was CDU/CSU an Politikern derzeit zu bieten haben, muss man sich ernsthaft Sorgen um den Zustand der Union machen.
Der einstige Verbündete, die FDP, braucht ebenfalls nicht auf meine Stimme zu hoffen. Was Jürgen Möllemann begann und Guido Westerwelle fortsetzte, hat Christian Lindner vollendet: die Selbstauslöschung des Liberalismus durch Beliebigkeit. Zwar hat inhaltliche Leere den typischen FDP-Wähler über Jahrzehnte hinweg nie gestört, doch seitdem die Wirtschaft kriselt, hinterfragt die FDP-Klientel das politische Wirken ihrer Partei in der Regierung. Dumm, wenn einem dann nur die Schuldenbremse einfällt.
Die Linkspartei kämpft zur allgemeinen Überraschung nicht mehr gegen den Untergang, nachdem sie wie ein Ertrinkender wild um sich geschlagen hat. Allerdings macht ihr aggressiver, ungewohnt klassenkämpferischer Wahlkampf einem nur noch schmerzlicher bewusst, was die chronisch mit sich selbst beschäftigte Linke all die Jahre nicht war: eine echte Alternative zu den anderen Parteien.
Und das »Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit« entlarvt sich bereits im Namen. Wer Oskar Lafontaine an seiner Seite weiß – der politische Terminator, der erst die SPD und dann die Linkspartei schredderte –, sollte das Wort »Vernunft« vermeiden. »Destruktivität« trifft es besser.
Es ist zum Heulen. Frühere Wahlen ließen einem die Hoffnung, dass es im schlimmsten Fall zumindest ein sogenanntes kleineres Übel gab. Verglichen mit Stoiber wirkte selbst Schröder ganz okay. Und wer die alten weißen Männer (Steinmeier, Steinbrück, Trittin, Bartsch) satthatte, der konnte ja Angela Merkel wählen. So lebte die bundesdeutsche Demokratie vom Glauben an akzeptable Optionen.
Dieser Glaube ging in den letzten Jahren zu Bruch. Hätte die Errichtung von Häusern so gut funktioniert wie die von komplizierten bürokratischen Strukturen (beantragen Sie bei einer Behörde mal Geld, das Ihnen zusteht), wäre die Wohnungsnot in Deutschland beseitigt. Auch die Situation in Kindergärten, Schulen und Jugendämtern hat sich verschärft. Es fehlt an Erzieherinnen, Lehrern und Sozialpädagogen. Und wer behauptet, es gäbe »mit Sicherheit stabile Renten« (SPD, 2025), verschweigt, dass das Netto-Rentenniveau seit 1977 von 60 auf 48 Prozent gefallen ist. So werden aus 1200 Euro Altersgeld 960 Euro – ein Unterschied, den man beim Einkaufen merkt.
Über dieses kollektive Versagen spricht keine Partei gern. Dass, wie in Trier, eine komplette 70er-Jahre-Uni abrissreif ist, weil kein Geld in ihren Erhalt gesteckt wurde, und dass in vielen Kitas der Notdienst der Normalzustand geworden ist, sind keine Wahlkampfthemen. Lieber zerstreitet man sich über Migration und Brandmauern – und wird auf diese Weise zum besten Wahlhelfer der AfD. Wer die Diskussionen in den sozialen Netzen verfolgt, gewinnt den Eindruck, dass die Nation auf die Couch gehört. Der kluge Heiner Geißler hat recht behalten: »Man kann durch Angstmacherei ein ganzes Volk in Panik versetzen.«
So packt mich Ratlosigkeit beim Blick auf den dräuenden Wahlsonntag: »Wen, bitte sehr, soll ich wählen?« Und ich erschrecke über mich selbst, als im Halbschlaf die Fantasie mit mir durchgeht: »Scharping gegen Stoiber – das wäre doch ein packendes Duell!«
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