Kitas in Berlin: Zwischen Papier und Praxis

Verdi bezweifelt, dass die Veränderung des Betreuungsschlüssels bei den überlasteten Erzieher*innen in den Kitas ankommt

Eine Fachkraft auf fünf Kinder, in der Krippe sollen es künftig nur vier sein. Laut Gewerkschaft werden solche auf dem Papier stehenden Vorgaben in der Realität bei Weitem nicht umgesetzt.
Eine Fachkraft auf fünf Kinder, in der Krippe sollen es künftig nur vier sein. Laut Gewerkschaft werden solche auf dem Papier stehenden Vorgaben in der Realität bei Weitem nicht umgesetzt.

Es bewegt sich endlich etwas an den Berliner Kitas: Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) fasst den gesetzlichen Betreuungsschlüssel an. Bei den unter Dreijährigen sollen Erzieher*innen zukünftig weniger Kinder betreuen müssen. Bislang kommt bei ihnen rechnerisch eine Fachkraft in Vollzeit auf 5,1 Kinder, ab Januar 2026 sollen es 4,6 Kinder sein und ab August 2026 dann 4,1 Kinder. »Wir nutzen den demografischen Wandel in Berlin, um den Betreuungsschlüssel für die unter Dreijährigen deutlich zu verbessern«, sagte die Senatorin am Donnerstag im Bildungsausschuss des Abgeordnetenhauses.

Ausgangslage ist die sinkende Geburtenrate, die zu weniger Kita-Kindern führt. Bis zum Jahr 2028 werde »ein Rückgang von rund 20 000 Kindern erwartet«, teilt die Bildungsverwaltung auf nd-Anfrage mit. Weil das in den Kitas eingeplante Personal sich nach der Anzahl zu betreuender Kinder richtet, würde die Entwicklung bei einer Beibehaltung des derzeitigen Betreuungsschlüssels bis 2028 zu einem Wegfall von 2400 Vollzeitstellen führen – Erzieher*innen die über die vergangenen Jahre des Fachkräfte- und Kitaplatzmangels hinweg mühevoll geworben und ausgebildet wurden. »Es wäre gravierend, wenn wir 2400 gut ausgebildete Kolleginnen und Kollegen in die Arbeitslosigkeit entlassen«, sagt Günther-Wünsch. Stattdessen wolle man die »einmalige Chance« nutzen, um »Qualität und Arbeitsplatzsicherung miteinander zu verknüpfen und merkliche Entlastung in die Kitas zu geben«.

Entlastung – das wurde im vergangenen Jahr von den streikenden Erzieher*innen der kommunalen Kitas gefordert. Sie klagten nicht über den drohenden Verlust ihrer Arbeitsplätze, weil es an Kitakindern fehle. Im Gegenteil: zu viele Kinder, zu wenig Personal. Hohe Krankenstände führten zu einer nicht mehr auszuhaltenden Überlastung, diese führe wiederum zu immer höheren Krankenständen und in der Konsequenz zu ausgebrannten Erzieher*innen, schlecht betreuten Kindern und Betriebseinschränkungen und Schließtagen.

Während sich die Senatorin über die Verbesserung des Betreuungsschlüssels freut, bestreitet die Gewerkschaft Verdi, dass dies im Alltag dem realen Verhältnis von Erzieher*innen zu Kindern entspricht. Um die Berichte der Beschäftigten über die tatsächlichen Verhältnisse zu untermauern, führte die Gewerkschaft kürzlich eine Befragung durch, an der nach eigenen Angaben über 3000 Erzieher*innen und Eltern aus ganz Berlin teilnahmen. Die Kita-Beschäftigten konnten angeben, wie viele Kinder sie an einem Tag durchschnittlich allein betreuen müssen. Das Ergebnis: Jede Fachkraft für die unter Dreijährigen müsse im Schnitt 7,8 Kinder betreuen, jede für die über Dreijährigen 12,6. Diese Zahlen übersteigen den schon geltenden gesetzlichen Betreuungsschlüssel erheblich. Allerdings hatte der Kita-Eigenbetrieb City eine eigene Untersuchung angestellt. Diese kam im Gegensatz zu Verdi zu dem Ergebnis, der Betreuungsschlüssel werde in der Regel eingehalten. Die Bildungsverwaltung habe nicht vor, selbst noch eine Untersuchung zur Klärung des Sachverhalts durchzuführen, so eine Sprecherin.

In der Kita, in der Martina Breitmann als stellvertretende Leiterin arbeitet, ist von einem Kinderrückgang bisher nichts zu spüren. »Das setzt sich aufgrund der hohen Krankenstände nicht in Personal um«, sagt sie. Breitmann gehört zu den bei Verdi organisierten Erzieher*innen der landeseigenen Kita-Betriebe. Die Änderung des Personalschlüssels hält sie für »einen Tropfen auf den heißen Stein«, weil sie die Situation nur »auf dem Papier« verbessere. »Eine Fachkraft betreut auf dem Papier fünf Kinder, in der Realität aber acht. Das ist das, was uns ausbrennt«, sagt Breitmann. Die Fehlzeiten seien im Betreuungschlüssel nicht ausreichend eingespeist. Breitmann fordert eine entsprechende Anpassung bei der Berechnung des notwendigen Personals. »Das würde tatsächlich was ändern in der Praxis. Aber da ist die Senatorin nicht rangegangen.« Es sei dennoch begrüßenswert, dass die Bildungsverwaltung überhaupt etwas gegen die Krise unternehme. Nun müsse aber noch nachgesteuert werden. Der Betreuungsschlüssel gebe zwar ein Soll an Kindern pro Erzieher*in an. Es gebe aber keine Konsequenzen, wenn es überschritten werde. »Es muss verpflichtend sein, dass das Personal in der Praxis auch vorzuhalten ist, damit es nicht nur eine Entlastung auf dem Papier ist«, findet Breitmann. Das gelte auch für die über Dreijährigen. Es brauche gerade dort Entlastung, weil in diesem Bereich zurzeit keineswegs die Zahl der Kinder sinke.

Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer hält zwar die Verbesserung des Betreuungsschlüssels für eine positive Entwicklung, die auf den Arbeitskampf der Beschäftigten zurückzuführen sei. Dennoch bleibt sie skeptisch, ob sich dadurch die Situation für die Erzieher*innen nachhaltig verbessert. »Ob das wirklich zur Entlastung führt, muss sich zeigen«, sagt sie.

Denn den zurückgehenden Kinderzahlen stünden auch zurückgehende Beschäftigtenzahlen gegenüber. Außerdem sieht auch Böhmer einen Handlungsbedarf bei den über Dreijährigen. »Es ist richtig, mit dem U3-Bereich anzufangen, aber das Thema ist damit nicht gelöst.« Böhmer befürchtet, dass mit der Änderung des Betreuungsschlüssels weitere Verbesserungen für die Erzieher*innen nicht weiter auf der politischen Agenda stehen werden. »Der Prozess wurde genutzt, um für eine allgemeine Beruhigung kleine Verbesserungen anzukündigen.«

Katrin Seidel ist Abgeordnete der Linksfraktion und erkennt an, dass die gesetzlichen Vorgaben auf dem Papier stehen und nicht die Realität widerspiegeln. Aber: »Die Realität passt sich schrittweise an Gesetzesänderungen an.« Durch die sinkende Geburtenrate sei Berlin nach langen Jahren des Notstands in den Kitas erstmalig auf einem Weg, die Vorgaben des Betreuungsschlüssels zu erfüllen. »Es ist das erste Mal, dass wir in Richtung Normalsituation kommen.«

Seidel ist froh, das die Kitas nicht von den »schrecklichen Kürzungen« betroffen sind, die der Senat zuletzt vorgenommen hat und weiterhin vornimmt. »Wir hatten große Angst, dass die Finanzverwaltung den Rückgang an Kita-Kindern zum Anlass nimmt, um auch hier Gelder einzusparen.« Dass das nicht eingetroffen ist, rechnet Seidel Engagierten wie dem Berliner Kitabündnis, Fachverbänden und Elternorganisationen zu. Den Runden Tisch, an dem man sich seit Unterbindung des Kita-Streiks zweimal traf, hält Seidel für ein Erfolgsmodell. »Zumindest das hat der Verdi-Streik bewirkt.« Nun wolle die oppositionelle Linksfraktion zusammen mit den Grünen einen Antrag ins Parlament einbringen, in dem weitere Fragen zur Debatte gestellt werden – etwa eine Berücksichtigung sich verändernder »Abwesenheitstatbestände« in der Personalberechnung. Damit sind die hohen Krankenstände gemeint, aber auch der Trend zur Arbeit in Teilzeit. Die anvisierten Gesetzesänderungen könnten weitreichender sein, sagt die Politikerin. Dennoch müsse der jetzige Erfolg gewürdigt werden. »Nach über zehn Jahren Kitaplatzmangel und harten Kämpfen für den Ausbau haben wir jetzt endlich einen Wendepunkt, eine gute historische Situation, die wir nutzen müssen.«

Erzieherin Martina Breitmann fehlt es derweil an direkt greifenden Lösungen für die akute Überlastungssituation. Denn die 2400 Vollzeit-Erzieher*innen, die Günther-Wünsch durch den neuen Betreuungsschlüssel an den Kitas halten will, würden bis 2026 von selbst gehen, wenn sich die Situation nicht ändert. »Weil wir kein Licht am Ende des Tunnels sehen, verlieren wir die Kolleg*innen. Sie sind am Ende und gehen an die Schulen oder ganz aus dem Beruf.« Auch Ausbildungsplätze bleiben Breitmann zufolge bereits unbesetzt und viele brechen die Ausbildung aufgrund der Arbeitsbedingungen ab. Deshalb will Breitmann weiter für den von Verdi geforderten Entlastungs-Tarifvertrag kämpfen.

»Das setzt sich aufgrund der hohen Krankenstände nicht in Personal um.«

Martina Breitmann Erzieherin

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