Li Andersson: »Europa muss auf eigenen Füßen stehen«

Die Linkspolitikerin und EU-Abgeordnete Li Andersson über Finnlands Sicherheits- und Verteidigungspolitik

  • Interview: Albert Scharenberg
  • Lesedauer: 8 Min.
Li Andersson bei einer Sitzung der Linksfraktion in Straßburg
Li Andersson bei einer Sitzung der Linksfraktion in Straßburg

Seit Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, fordern kritische Stimmen in- und außerhalb der Linken, dass die sozialistischen Parteien die Sicherheits- und Verteidigungspolitik ernster nehmen sollten. Teilen Sie diese Einschätzung? Welche Art von Umdenken hat Ihre Partei, das Linksbündnis (Vasemmistoliitto), eingeleitet?

Als die russische Invasion in der Ukraine begann, war das Linksbündnis Teil der finnischen Regierung. Wir alle wollen Frieden, aber diese Invasion zwang uns zu schwierigen Diskussionen, denn als Regierungspartei reicht es nicht aus, allgemeine Aussagen über die Bedeutung von Frieden zu machen. Man muss in der Lage sein, zu den schwierigen Verteidigungs- und Sicherheitsfragen Stellung zu beziehen.

Die Erhöhung der Verteidigungsausgaben mussten wir jedoch hinnehmen. Dies war jedoch keine isolierte Position der finnischen Linken. Auch andere nordische Parteien trafen entsprechende Entscheidungen, da wir alle mit derselben Situation konfrontiert waren: nämlich, dass eines unserer Nachbarländer einen konventionellen Krieg gegen ein anderes Land führt und damit gegen das Völkerrecht verstößt. Aus unserer Sicht ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Linke den Angriffskrieg Russlands klar verurteilt und die Ukraine unterstützt, auch mit Waffen. Die Herausforderung für die Linke besteht darin, dass Putin uns gezwungen hat, anders über Verteidigungsfragen nachzudenken. Wir haben uns das nicht ausgesucht, aber wir können die Gefahr eines Krieges nicht mehr ausschließen.

Als Reaktion auf den Krieg und die weit verbreitete Angst vor einer russischen Aggression traten sowohl Finnland als auch Schweden der Nato bei. Wie reagierte das Linksbündnis auf diese neue Realität?

Tatsächlich war die Frage der Nato-Mitgliedschaft die größte Herausforderung, mit der Finnland sich nach der russischen Invasion konfrontiert sah. Aus unserer Sicht ging es weniger darum, dass wir unbedingt in die Nato wollten, als darum, dass wir Sicherheitsgarantien brauchten – ich glaube, das ist ein wichtiger Unterschied, den man aus Sicht der Linken betonen muss. Und genau vor dieser Frage stehen heute auch andere Länder in Osteuropa.

Meine Partei akzeptiert Finnlands Mitgliedschaft in der Nato als Tatsache. Vor diesem Hintergrund konzentrieren wir uns auf die Rolle, die Finnland innerhalb der Nato spielen soll, etwa durch Kampagnen gegen Atomwaffen und indem wir dafür eintreten, dass die Nato der Verteidigung Vorrang einräumt, anstatt sich an Operationen außerhalb des Nato-Gebiets zu beteiligen.

Ich glaube, einer der größten Fehler, den wir als linke Partei gemacht haben, war, dass wir nicht die Initiative ergriffen haben, eine alternative europäische Sicherheitsarchitektur zu konzipieren und aufzubauen, einschließlich entsprechender Sicherheitsgarantien.

Nur zwei Jahren nach dem Beitritt Finnlands und Schwedens wird die Nato ausgerechnet von Donald Trump angeführt. Benötigt Europa angesichts der Herangehensweise Trumps an die internationale Diplomatie eine unabhängigere Sicherheitspolitik?

Zunächst einmal sind wir der Meinung, dass es derzeit ein zentrales Ziel unserer Sicherheits- und Außenpolitik sein sollte, die Abhängigkeit von den USA zu verringern. Eben deshalb sollte die europäische Zusammenarbeit eine größere Rolle im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik spielen.

Die wichtigste Lehre, die Europa mit Blick auf Trump ziehen sollte, ist, dass wir bereit sein müssen, auf eigenen Beinen zu stehen. Wir können uns nicht auf die USA verlassen und sollten dies auch nicht anstreben.

Würden Sie argumentieren, dass das europäische Ziel darin bestehen sollte, eine Art »strategische Autonomie« von den USA zu erlangen?

Ja, das ist ein sinnvoller Ansatz für die Linke. Wie können wir die Abhängigkeit Europas von den USA reduzieren? Ich denke, das sollte eine gemeinsame Frage der europäischen Linken sein.

Das hat auch eine industriepolitische Dimension. Wir wollen uns nicht von amerikanischen oder chinesischen Technologiemonopolen abhängig machen, sondern müssen diese Branchen in Europa ausbauen. Dazu gehört nicht zuletzt die Notwendigkeit einer Energiewende unserer Industrie.

Zugleich wissen wir, dass eine Welt mit einer geringeren gegenseitigen Abhängigkeit neue Risiken birgt. Ich denke, die Linke sollte in der Lage sein, dies zu vermitteln. Wir sollten nicht alle Handels- oder Wirtschaftsbeziehungen abbrechen oder eine trumpistische Politik der hohen Zölle und des Protektionismus betreiben – eine solche Politik ist ohnehin keine fortschrittliche Alternative.

Infolge der russischen Invasion in der Ukraine hat sich Europa sehr deutlich geäußert und das betroffene Land stark unterstützt. In Bezug auf Gaza haben die EU und ihre Mitgliedstaaten sich größtenteils ziemlich zurückhaltend geäußert. Sollten die europäischen Länder sich Ihrer Meinung nach stärker gegen die Kriegführung Israels aussprechen?

Davon bin ich felsenfest überzeugt. Das Vorgehen der sogenannten westlichen Länder wird verheerende Auswirkungen auf multilaterale Institutionen und die Bedeutung des Völkerrechts haben. Ihre Doppelmoral ist offensichtlich und skandalös. Der Vergleich zwischen der Ukraine und Gaza macht dies umso deutlicher. Es gibt EU-Länder, die zu verstehen gegeben haben, dass sie die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs gegen israelische Amtsträger*innen nicht umsetzen werden, aber gleichzeitig fordern, dass der Globale Süden uns bei der Verhaftung Putins unterstützt. Und das, obwohl beide Haftbefehle vom selben Gericht ausgestellt wurden! Diese Art von Heuchelei ist einfach unfassbar.

Wir stehen an einem Wendepunkt in der Weltpolitik, und eine der gefährlichsten Entwicklungen ist die Erosion, oder besser gesagt: die Zersetzung internationaler regelbasierter Institutionen. Das ist es, was Machthaber wie Putin und Trump anstreben. Und das ist natürlich eine schlechte Nachricht für alle, die sich für Frieden, internationale Zusammenarbeit und eine auf internationalen Regeln beruhende Ordnung einsetzen. Die unglaublich schwache Reaktion der EU-Länder auf den Völkermord in Gaza dürfte zudem die Kluft zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden weiter vertiefen.

Zuletzt wurde viel über einen Waffenstillstand in der Ukraine gesprochen. Was sollten Ihrer Meinung nach hierbei die Forderungen der europäischen Linken sein?

Meines Erachtens muss die Linke begreifen, dass dann die Frage relevant wird, zu welcher Sicherheitsarchitektur die Ukraine gehören wird. Es sollte klar sein, dass die Ukraine nicht außen vor gelassen werden kann.

Meiner Meinung nach wäre eine EU-Mitgliedschaft die klügste Lösung für die Ukraine. Sie ist einfacher als eine Nato-Mitgliedschaft – die von der neuen US-Regierung ohnehin bereits ausgeschlossen wurde. Eine EU-Mitgliedschaft würde das Land in die europäische Sicherheitsarchitektur einbinden. Damit wären gewisse politische Garantien gegeben, auch wenn diese aus verteidigungspolitischer Sicht nicht so stark sind wie bei einer Nato-Mitgliedschaft.

Die europäische Linke sollte sich nach diesem Krieg für einen EU-Beitritt der Ukraine aussprechen. Die Ukraine muss dafür weiterhin die formalen Voraussetzungen erfüllen. Das wird nicht einfach sein – sie wird viel Unterstützung brauchen, um ihre Verwaltung und Gesellschaft zu reformieren und die Beitrittskriterien zu erfüllen. Aber auch für die EU wird dies eine große Veränderung hinsichtlich der Ressourcenverteilung innerhalb der Union bedeuten.

Darüber hinaus wird es im Falle eines Waffenstillstands eine Friedensmission in der Ukraine geben müssen. Es werden ausländische Truppen auf ukrainischem Gebiet stationiert werden müssen, um den Waffenstillstand zu gewährleisten. Der neue US-Verteidigungsminister, Pete Hegseth, hat bereits erklärt, dass keine Streitkräfte der USA am Friedenseinsatz in der Ukraine beteiligt sein werden, und diese Verantwortung auf Europa abgewälzt. Das wirft die Frage auf, ob eine europäische Präsenz ausreicht, um einen Waffenstillstand durchzusetzen. Ich bin der Meinung, dass Europa das schaffen kann.

Sollte die Linke sich auch auf Entwicklungen in der Ukraine konzentrieren? Und sollten wir nicht die Plünderung ukrainischer Ressourcen durch den Westen kritisieren, wie etwa den Deal über seltene Erden, den Trump kürzlich gefordert hat?

Auf jeden Fall. Die europäische Linke sollte solche schmutzigen »Deals«, die im Grunde Erpressungen sind, anprangern und sich auf die ukrainische Gesellschaft konzentrieren.

Seit Beginn des Krieges fordern wir den Erlass der ukrainischen Staatsschulden. Dies ist ein entscheidender Punkt, denn andernfalls wird die Ukraine in völlige Abhängigkeit von ausländischen Kreditgeber*innen geraten. Daher sollten wir uns weiterhin für dieses Thema einsetzen und mit der ukrainischen Zivilgesellschaft, den Gewerkschaften und progressiven Bewegungen in Bereichen wie der Kontrolle natürlicher Ressourcen, den Arbeitnehmerrechten usw. zusammenarbeiten.

Zu viele Beobachter*innen interessieren sich nur für militärische Themen und nicht für die innenpolitischen Fragen, die für die Ukrainer*innen selbst von großer Bedeutung sind – diese Probleme hängen mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit zusammen. Darauf sollten wir uns konzentrieren.

Abschließend möchte ich Sie als Mitglied des Europäischen Parlaments fragen: Welche Ziele sollte Europa in der aktuellen politischen Situation vorrangig verfolgen?

Ich denke, viele Bürger*innen würden es begrüßen, wenn Europa eine aktivere Rolle in dieser geopolitischen Situation übernehmen würde. Sie erwarten von uns, dass wir eine Alternative zur autoritären, faschistischen und gewaltsamen Herrschaft aufbauen, die sich weltweit ausbreitet. Gefragt sind Stimmen, die für eine andere Vorstellung von der Rolle eintreten, die wir spielen wollen – starke Stimmen für Völkerrecht, Menschenrechte und eine wirkliche Lösung der Klimakrise, die unsere Sicherheit weitaus umfassender beeinträchtigt als die Verteidigungsfrage.

Das setzt aber die Bereitschaft voraus, sich den Technologiemonopolen und den Reichsten der Welt entgegenzustellen, die offen versuchen, ihre wirtschaftliche Stärke in politische Macht umzuwandeln. Wird Europa das tun? In den kommenden Jahren wird es im Europäischen Parlament vor allem um den Kampf gegen die extreme Rechte gehen. Welche Seite wird sich durchsetzen und die Stellung der EU in dieser neuen geopolitischen Landschaft bestimmen? Das wird die entscheidende Schlacht sein.

Albert Scharenberg ist Redakteur für internationale Politik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die ungekürzte Fassung des Interviews steht auf rosalux.de/international.

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