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  • Kinofilm »Les Indesirables«

Widerstand im Vorort

Regisseur Ladj Ly versucht mit seinem Film »Les Indésirables« über eine Banlieue an den großen Erfolg von »Les Misérables – Die Wütenden« anzuknüpfen

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
Einen Armutsporno hätte man von Ladj Ly sowieso nicht erwartet. Aber die Intensität fehlt »Les Indésirables« schon.
Einen Armutsporno hätte man von Ladj Ly sowieso nicht erwartet. Aber die Intensität fehlt »Les Indésirables« schon.

Wie können wir an so einem Ort leben und sterben?«, fragt die verzweifelte Mutter der jungen Haby (Anta Diaw), als der Sarg der Großmutter durch das enge, heruntergekommene und kaum beleuchtete Treppenhaus des Wohnblocks getragen wird. Der Aufzug ist seit langer Zeit kaputt, genauso wie ein Teil der Treppenhausbeleuchtung. Die Männer kommen mit dem Sarg fast nicht durch und ständig droht er ihnen zu entgleiten. Ganze fünf Minuten begleitet die Kamera den Trauerzug auf diesem klaustrophobischem Weg nach unten. Mit diesem Intro zwingt Regisseur Ladj Ly in seinem Film »Les Indésirables« die Zuschauer regelrecht, sich auf die Perspektive der Banlieue-Bewohner einzulassen, deren Geschichte erzählt wird.

Das Gebäude Nummer 5 in der Siedlung einer französischen Vorortgemeinde, ein typischer sozialer Brennpunkt, soll eigentlich geräumt und durch einen Neubau ersetzt werden. Den Bewohnern, den Titel gebenden »Unerwünschten«, werden ihre zum Teil im Eigentum befindlichen Wohnungen für einen Spottpreis abgekauft. Aber der Neubau, so findet die junge Haby heraus, soll fast ausschließlich aus Zweizimmerwohnungen bestehen, was einer Vertreibung der zahlreichen Großfamilien in dem Block gleichkommt. Haby arbeitet im Archiv des Rathauses und organisiert mit Freunden zusammen eine Mieter*innen-Beratung.

Bald wird die junge Frau zum Kopf einer Kiezbewegung, die sich gegen die Vertreibung zur Wehr setzt. Die angeblich sozialverträgliche Modernisierung führt der frisch gewählte Bürgermeister Pierre (Alexis Manenti) durch, der sich als liberaler Freund der einfachen Leute inszeniert, aber beim bald entstehenden Widerstand der vor allem jungen Menschen knallhart durchgreift. Nachdem er von Jugendlichen attackiert wurde, lässt er mit prügelnden Bereitschaftspolizisten einen illegalen Schrottplatz neben dem Gebäude räumen, der eigentlich eine Art Werkstatt der Bewohner ist, die zum Teil von ihren dortigen Arbeiten leben. Als Nächstes verfügt er ein abendliches Ausgehverbot für Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren. Außerdem dürfen nicht mehr als zwei Personen auf der Straße nebeneinander laufen. (Mit diesem Reglement drangsalierten in den 80er Jahren auch Berliner Polizisten zeitweise die Bewohner Kreuzbergs.) Daraufhin lässt sich Haby zur Kandidatin für den Bürgermeisterposten aufstellen und organisiert einen Wahlkampf von unten. Statt Plakaten werben grelle Wandgemälde für den solidarischen Umschwung. Aber als es dann zu einem Brand in einer Wohnung kommt, in der ein illegales Restaurant betrieben wird, räumt der autoritäre Bürgermeister Pierre unmittelbar vor Weihnachten kurzerhand das Gebäude und schafft damit Fakten. Alle Bewohner stehen plötzlich auf der Straße.

Für seinen Film »Die Wütenden – Les Misérables« (2019) wurde Regisseur Ladj Ly, der selbst in einer Banlieue nahe Paris aufwuchs, von der internationalen Kritik gefeiert. Neben dem Filmpreis Cesar und dem Kritikerpreis in Cannes wurde der Film über den Kampf junger Menschen gegen Polizeigewalt sogar für einen Oscar nominiert. »Les Indésirables« kann an diesen Meilenstein nicht wirklich anknüpfen. Der Film geht zwar stellenweise unter die Haut und erzählt eindringlich, wie eine angeblich soziale Stadtteilpolitik vor allem die Schwächsten in der Gesellschaft ausgrenzt, ganz nach dem Motto: soziale Probleme werden gelöst, indem arme Menschen, deren Alltagskultur nicht ins Konzept passt, vertrieben werden. Dadurch setzt der Film außerdem auf verstörende Weise jenen staatlichen Rassismus in Szene, der im Zuge des großen neofaschistischen Rechtsrucks von Washington über Rom bis Budapest für immer mehr Menschen gravierende Konsequenzen hat. Aber der Film hat seine Längen, die Eskalation gegen Ende der Geschichte wirkt aufgesetzt, viele Konflikte werden eher oberflächlich angerissen als auserzählt.

Wobei »Les Indésirables« die gängigen Banlieue-Klischees junger Männer in Kapuzenpullis vor Waschbetonwänden, die ständig Molotowcocktails zur Hand haben, vermeidet. Der Film bietet keinen Riot-Porn wie Romain Gavras »Athena« (2022), für den Ladj Ly das Drehbuch schrieb. Immerhin wartet »Les Indésirables« mit einer glaubwürdigen, starken Heldin auf, die ebenso gegen die Zerstörung ihrer Lebenswelt kämpft wie auch gegen den gewaltverliebten Machismus in ihrem Umfeld.

Die Banlieues, die je nach sozialpolitischer Großwetterlage immer wieder in die Schlagzeilen nicht nur französischer Medien kommen, erleben in den letzten Jahren einen regelrechten Boom in ihrer kulturindustriellen Bearbeitung. Neben Diaty Diallos Roman »Zwei Sekunden brennende Luft«, der viel von kollektiver Trauer und dem Kampf gegen Repression erzählt und dem unlängst in die Kinos gekommenen Film »Gagarin«, der mit Mitteln des magischen Realismus die Sehnsüchte junger Menschen aus den Vorstädten in Szene setzt, versucht auch »Les Indésirables« ein Narrativ jenseits gängiger Klischees zu entwerfen. Das funktioniert über weite Strecken, aber die Botschaft, dass politischer Aktivismus trotz geringer Chancen dennoch eine empowernde Selbstermächtigung der Bewohner bedeutet, bleibt zu sehr im Ungefähren.

»Les Indésirables – Die Unerwünschten«: Frankreich 2023. Regie und Drehbuch: Ladj Ly. Mit: Anta Diaw, Alexis Manenti, Aristote Luyindula. 105 Minuten. Start: 6.3.

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