- Kultur
- Erich Kästner
Münchhausen bei den Nazis: Subversion hinter den Kulissen
Zu den bekanntesten Filmen aus der NS-Zeit gehört »Münchhausen«. Das Drehbuch stammt von dem Schriftsteller und Pazifisten Erich Kästner
November 1942: Die alliierten Truppen landen in Nordafrika und eröffnen eine zweite Front gegen Nazi-Deutschland. Am 2. Februar 1943 kapituliert die sechste Armee des Generalfeldmarschalls Paulus vor Stalingrad. Während die Rote Armee vorrückt, forciert die SS die Vernichtung der europäischen Juden. In Deutschland spielt sich das Leben mehr und mehr unter der Erde ab, in Bunkern und Luftschutzkellern. Doch die nationalsozialistische Propagandamaschine läuft weiterhin auf Hochtouren.
Am 5. März 1943 feierte eines der ehrgeizigsten und aufwendigsten Filmprojekte der NS-Zeit Premiere: »Münchhausen«. Ganz im Stil US-amerikanischer Hollywood-Komödien erzählt der Film die fantastischen Abenteuer des Lügenbarons aus Bodenwerder.
Die Münchhausiaden erschienen erstmals 1781 in der Berliner Zeitschrift »Vademecum für lustige Leute«. Ihr Autor blieb anonym. Aus gutem Grund, denn die Figur des Freiherrn hatte ein historisches Vorbild: Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen, der, so wird überliefert, außerordentlich erbost gewesen sein soll, dass sein Name im Titel einer Sammlung von 16 Lügengeschichten genannt wurde.
Von Berlin aus gelangten die Erzählungen über die fantastischen Abenteuer des Barons nach England, wo sie von Rudolf Erich Raspe ins Englische übersetzt wurden. Dort entdeckte sie der deutsche Schriftsteller Gottfried August Bürger, der sie 1786 ins Deutsche zurückübersetzte und um einige neue Münchhausiaden erweiterte: »Die wunderbaren Reisen zu Wasser und zu Lande – Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde zu erzählen pflegte«. Bürgers Buch wurde zur Grundlage aller Nacherzählungen – auch für den Münchhausen-Film.
Die Ballonfahrt zum Mond, Cagliostros Ring, der Münchhausen unsichtbar zu machen vermag und nicht zuletzt Münchhausens berühmter Ritt auf der Kanonenkugel, von der Hans Albers in der Rolle des Lügenbarons ins Publikum grüßt – die Filmversion von 1943 präsentierte eine opulente und exotisch anmutende Märchenwelt, die ihre Kinopremiere im größten Kino Deutschlands feierte: dem Berliner Ufa-Palast am Zoo. Das Drehbuch stammt aus der Feder des Journalisten, Lyrikers, Kinderbuchautors und Romanciers Erich Kästner. »Er war ein sehr medienaffiner Autor für seine Zeit«, sagt der Münchner Literaturwissenschaftler Sven Hanuschek und betont Kästners Interesse »an neuen Formen und Medien«.
Wer 1943 noch an die Traumfabrik glaubte, sah hier mit eigenen Augen das Pappmaché.
Obwohl der Schriftsteller mit einem Schreibverbot belegt wurde und der Gestapo als »Kulturbolschewist übelster Sorte« galt, durfte er das Drehbuch zu »Münchhausen« verfassen. In Absprache mit Goebbels erteilte Reichsfilmintendant Fritz Hippler im Juli 1942 eine mündliche Sondergenehmigung. Allerdings konnte Kästner nur unter dem Pseudonym Berthold Bürger schreiben. Das war kein Zufall und entsprach durchaus der nationalsozialistischen Kulturpolitik: Öffentlich geächtete Autoren, die nicht vor dem NS-Regime ins Ausland geflohen waren und über ein gewisses Ansehen verfügten, genossen eine Reihe von Privilegien. So auch Erich Kästner, dessen gesellschaftskritische Satiren und Gedichte vor 1933 vor allem im Feuilleton der »Vossischen Zeitung« und in Carl von Ossietzkys »Weltbühne« gefragt waren.
Auch deshalb wurden am 10. Mai 1933 Kästners Bücher auf dem Berliner Opernplatz verbrannt. 1934 verhaftete ihn die Gestapo und ließ ihn kurz darauf wieder frei; 1937 wurde Kästner erneut verhaftet und wieder entlassen. Zwischenzeitlich durfte er im Ausland publizieren: »Das fliegende Klassenzimmer«, »Die verschwundene Miniatur«, »Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke« und seinen »Till Eulenspiegel«. Der NS-Staat brauchte Devisen, und Kästner war nicht bereit, seine literarische Karriere wegen der Nationalsozialisten zu opfern.
Schon vor der Machtergreifung verfasste Kästner Drehbücher für die Verfilmung seiner Romane. Seine Kontakte zu Filmkreisen pflegte er auch während der NS-Zeit. Mitte 1941 fragte ihn Eberhard Schmidt, Produktionsleiter der Berliner Ufa und enger Freund, ob er Interesse habe, das Drehbuch zum 25-jährigen Jubiläum der Ufa zu schreiben. Kästner war einverstanden, schlug den Münchhausen-Stoff vor und fand damit Zustimmung. Goebbels und die Reichsfilmkammer wussten, »dass Kästner der Beste ist, der das machen kann, der viele Boulevardstücke mitgeschrieben hatte, der unglaubliches Gespür für Dramaturgie, Tempo, Einfallsreichtum und Witz hatte«, so Sven Hanuschek.
Bei seiner Premiere am 5. März 1943 im Berliner Ufa-Palast hatte »Münchhausen« einen Riesenerfolg und spielte in den folgenden Wochen weit über 25 Millionen Reichsmark ein. Doch im Abspann des Films fehlte der Name des Drehbuchautors: Berthold Bürger alias Erich Kästner hatte erneut Schreibverbot. Als Hitler erfahren habe, bei wem es sich um Berthold Bürger handelte, habe er einen »Wutanfall bekommen und das Totalverbot ausgesprochen«. Von diesem Führerbefehl, sagt Hanuschek, gab es mehrere Schreibmaschinendurchschläge. »Kästner hatte einen davon in einem Holzrähmchen bei sich im Wohnzimmer in den 1950er Jahren an der Wand hängen.«
Die Bedeutung des Mediums Film hatte Hitlers Propagandaminister Goebbels wie kein anderer erkannt. Er selbst war ein leidenschaftlicher Kinoliebhaber. Zu seinen Lieblingsfilmen zählten »Panzerkreuzer Potemkin« von Sergej Eisenstein und »Die Nibelungen« von Fritz Lang. Über die Prinzipien, nach denen Kunst unter dem Hakenkreuz zu gestalten ist, ließ Goebbels keinen Zweifel: »Nur nicht langweilig werden! Das stelle ich allem anderen voraus: nur keine Öde!«
Von den rund 1100 Spielfilmen der NS-Zeit erweist sich nur jeder zehnte Kinostreifen als offen nationalsozialistisch. Dazu gehören Kriegsfilme wie »Stukas« von Karl Ritter und das antisemitische Machwerk »Jud Süß«. Fast die Hälfte aller Kinostreifen waren vermeintlich unpolitische Unterhaltungsfilme wie die »Feuerzangenbowle«, die aber als »staatspolitisch wertvoll« galten.
Dennoch wurden ab 1933 etwa 5000, zumeist jüdische Filmschaffende und politisch Andersdenkende aus ihren Positionen entlassen. Zahlreiche Künstler mussten emigrieren – darunter Hertha Thiele, Conrad Veidt, Peter Lorre, Billy Wilder und Otto Preminger.
Das Prestigeobjekt »Münchhausen« lag Goebbels besonders am Herzen. Es sollte Hollywood Paroli bieten, die Exportmärkte im neutralen Ausland zurückerobern und für die kulturelle Schaffenskraft des NS-Regimes werben. Mit der Regie betraute er den ungarischen Unterhaltungsroutinier Josef von Báky. Für »Münchhausen« wurden die bekanntesten deutschen Schauspieler aufgeboten: Brigitte Horney als Zarin Katharina II., Ferdinand Marian als Graf Cagliostro und natürlich Hans Albers, Liebling des Publikums, als blauäugiger Lügenbaron Münchhausen.
Hinter den Abenteuergeschichten und Filmbildern hatte Drehbuchautor Kästner seine eigene Botschaft versteckt. Zwar verzichtet er nicht auf Münchhausens toll gewordene Beinkleider zu Hause in Bodenwerder, nicht auf das Jagdhorn, dessen Töne eingefroren sind und das plötzlich in der warmen Gaststube zu spielen beginnt. Nicht auf den Harem des Großsultans oder den Schnellläufer, der im Zeitraffer nach Wien eilt und bei Kaiserin Maria Theresia um die Flasche Tokajer bittet.
Ansonsten aber hatte Kästners Drehbuch nicht viel mit den ursprünglichen Münchhausiaden von Gottfried August Bürger gemein. Gleich zu Beginn des Films geschehen in einem Rokoko-Schlösschen seltsame Dinge: Das Porträt von Münchhausen an der Wand zwinkert den Kinobesuchern zu, im Hintergrund spielt das Kammerorchester einen Tango, und der dunkelhäutige Diener hat gar keine schwarze Haut, sondern Farbe im Gesicht. Es kommt noch ärger: Als Münchhausen Licht machen will, greift seine Hand nicht zum Kerzenständer, sondern knipst das elektrische Licht an. Und die junge Baronin, die sich in Münchhausen verliebt hat, von ihm aber zurückgewiesen wird, fährt wütend und enttäuscht in einem schnittigen Sportwagen davon.
Es scheint, als wolle der Film seine Unwirklichkeit demonstrativ zur Schau stellen. Wer 1943 noch an die Traumfabrik glaubte, sah hier mit eigenen Augen das Pappmaché. Kästner erzählt nicht einfach ein Märchen. Vielmehr wurden hier Kulissen weggeschoben, um den Zuschauern die Inszenierung des Scheins zu zeigen. Es ist, als stünde der Moralist Kästner neben der Bühne und flüstere dem Publikum zu, es solle ja nicht glauben, was es sehe. Nicht im Kino und nicht in der inszenierten Wirklichkeit der Reichsparteitage der NSDAP. Wie ein subversiver Handlungsfaden ziehen sich Anspielungen auf die Zeit und auf ihre Vergänglichkeit durch den gesamten Film. Kästner macht deutlich, dass Helden sterblich sind – auch Nazi-Helden.
Für die Filmwissenschaftlerin Barbara Flückiger ist es gerade heute wichtig, diese Filme noch einmal anzuschauen und dem Publikum zugänglich zu machen, »weil wir eine verzerrte Vorstellung davon haben, wie es in der Nazi-Zeit ausgesehen hat. Wir glauben, dass die Nazis irgendwie finstere Gesellen waren, was natürlich auch stimmt. Aber interessant ist, dass man dies im Unterhaltungssektor nicht sieht. Es wurden aufwendige Produktionen zur Unterhaltung der Bevölkerung hergestellt, Brot und Spiele im wahrsten Sinne des Wortes, um abzulenken von den brutalen politischen Ereignissen.«
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Nach dem Ende der NS-Diktatur habe sich Kästner mit seiner eigenen Geschichte so gut wie nie öffentlich auseinandergesetzt, stellt der Literaturwissenschaftler Hanuschek fest. Ein seltener Moment, als er dies tat, war 1958, als er sich vor dem deutschen P.E.N.-Club für seine literarische Tätigkeit unter dem Hakenkreuz mit dem Hinweis auf einen inneren Befehlsnotstand rechtfertigte.
Auf die Frage, ob man sich der Bücherverbrennung hätte widersetzen können, antwortete er: »Im modernen, undemokratischen Staate wird der Held zum Anachronismus, der Held ohne Mikrofone zum tragischen Hans-Wurst. Seine menschliche Größe hat keine politischen Folgen. Er wird statt zum Helden zum Märtyrer, er wird zur namenlosen Todesanzeige.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.