Hexe im Ofen - zeitgemäß?
Johannes Felsenstein inszeniert »Hänsel und Gretel« in Dessau
Seit weit über 100 Jahren führt das unsterbliche Geschwisterpaar Hänsel und Gretel nun auch sein fröhliches, zugleich von Ängsten und Schrecken durchsetztes Opernleben. Naht die Weihnachtszeit, stellen die Opernhäuser die beiden mit Eltern, Knusperhexe, Sand- und Taumännchen ins Bühnenlicht. Nicht selten überlasen sie die Inszenierung oder auch nur Neueinstudierung einem jungen Regisseur als »Anfängerstück«. Nicht so im Anhaltischen Theater Dessau. Da widmet sich Intendant und Chefregisseur Johannes Felsenstein dieser Aufgabe. Und er nimmt das Werk so ernst wie alles, was er anpackt. Er will den ins Theater kommenden Kindern ein spannendes Erlebnis schaffen, auch ihre Eltern und Großeltern zum Nachdenken anregen.
Das von den Gebrüdern Grimm und auch von Ludwig Bechstein aufgezeichnete Märchen setzt Felsenstein als bekannt voraus. Davon ausgehend, stellt er in Frage, ob es heutigen pädagogischen Anforderungen gerecht wird, wenn »Kinder gefangen gehalten und gemästet werden, um im Bratofen zu enden, oder die Hexe ... unter dem Jubel aller im Ofen verbrannt wird.« Zudem hegt er wohl Zweifel, ob die für Kinder ziemlich lange Ouvertüre und das ausgedehnte Zwischenspiel die Konzentrationsfähigkeit der Kinder überfordern. So blendet er in diese Stücke filmisch Zeitgeschichte ein: »Industrielle Revolution, Hunger, Armut, Aufstände, Niederschlagung, Erster Weltkrieg, Inflation, Zweiter Weltkrieg, Wirtschaftswunder, Luftbrücke, 68er-Demos, Vietnamkrieg«. Diese Bilder aber fordern unwillkürlich die ganze Aufmerksamkeit und lassen die Musik zur Geräuschkulisse werden.
Wenn sich der Vorhang öffnet, beherrschen die Märchenkinder den ärmlichen Kellerraum in trübem Oberlicht, den der Bühnen- und Kostümbildner Stefan Rieckhoff für das erste Bild entworfen hat. Insgesamt geht es in diesem Bild zu, wie es die Librettistin Adelheid Wette und deren Bruder Engelbert Humperdinck als Komponist erdacht haben. Nur lassen sich Hänsel und Gretel nicht von der schimpfenden Mutter zum Beerensuchen in den Wald jagen, sondern verkriechen sich unter ihren Betten.
Entsprechend wird das zweite Bild in der tristen Kellerstube als Traum gestaltet. Nach dem dieses Bild beschließenden Aufzug der Schutzengel und dem Lied des glitzernden Taumännchens erwachen sie in einem herrschaftlichen Wohnzimmer. Der arme, arbeitslose, im ersten Bild trunksüchtige Besenbinder ist inzwischen mit seinen Produkten zu Wohlstand gelangt. Das bleibt allerdings angesichts zunehmender Kinderarmut und Hartz-IV-Empfänger (einer scheußlichen Wortkonstruktion für den in der Weimarer Republik noch ehrlichen Begriff der Arbeitslosenhilfe) nur als frommer Wunschtraum zu begreifen.
Vater Peter, nun in stattlicher roter Robe, bindet sich ein Kopftuch um und führt gut gelaunt mit seinen Kindern das Geschehen des dritten Bildes im Anblick eines Pfefferkuchenhauses als Puppenspiel vor. Die Puppe der Hexe fliegt nicht in den Backofen, sondern landet mit den Puppen des Geschwisterpaares einträchtig auf dem Sims des Wohnzimmer-Kamins. Daran hatten die kindlichen und erwachsenen Zuschauer in der hier besprochenen Vorstellung durchaus ihren Spaß. Das bleibt – wie bei Felsenstein stets – der genauen Personenführung und lebendigen szenischen Gestaltung wie den darstellerischen und sängerischen Leistungen Sabine Noacks als Hänsel, Cornelia Marschalls als Gretel, Ludmil Kuntschews als Vater und Knusperhexe, Ilona Steinbergers als Sand- und Taumännchen und dem ausdrucksstarken Spiel der von Markus L. Frank geleiteten Anhaltischen Philharmonie zu danken.
Doch junge Leute, die die Oper schon früher gesehen hatten, meinten nach der Vorstellung, die Beförderung der Hexe in einen Backofen sei lustiger, spannender und werde gewiss als Märchen – nicht als Aufforderung zu neuen Hexenverbrennungen verstanden. In dieser Hinsicht darf Kindern und Jugendlichen, die im Fernsehen gelassen schlimmstes Geschehen aufnehmen, schon reichlich Fantasie und Urteilsvermögen zugetraut werden.
Nächste Vorstellung am 10.11.
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