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Kitas vor dem Kollaps

Krisenbuch der Rosa-Luxemburg-Stiftung versammelt 28 Erfahrungsberichte von Beschäftigten

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie es den Kindern geht – das geht die ganze Gesellschaft an.
Wie es den Kindern geht – das geht die ganze Gesellschaft an.

»Es war mal wieder Personalmangel und ich kann nur eine Pause machen, wenn alle Kinder schlafen. Wenn sie nicht schlafen, arbeite ich durch. Und ich brauchte so dringend eine Pause. Aber ein Junge wollte einfach nicht einschlafen. So saß ich an seinem Bett, weinte und flehte ihn an, er solle doch endlich einschlafen ...«

Viele Jahre und einige Kitas später weiß die Person, dass es nicht viele Kitas gibt, in denen es besser ist. Sie formuliert: »Das System Kita ist am Anschlag. Aber es wird weiter funktionieren, weil es immer pädagogisches Personal geben wird, das extrem leidensfähig ist und weitermacht.«

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat in Zusammenarbeit mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ein Kita-Krisenbuch herausgegeben, wobei Buch vielleicht zu viel gesagt ist, zählt das Heftchen doch lediglich 39 Seiten. Vom Text gehen noch etliche ganzseitige, traurig-komische Porträts von Kindern ab, die schmollend, ärgerlich oder direkt wütend in die Kamera schauen oder sich fassungslos an den Kopf fassen. Es bleibt aber dennoch Raum für Zahlen und Fakten zur Arbeitsbelastung – und vor allem für 28 Erfahrungsberichte von Beschäftigten. Schon die Zwischenüberschriften dieser Berichte sind vielsagend: »Hauen und beißen«, »Scherben im Mund« und »Die schlimmste Schicht meines Lebens« beispielsweise.

»Die Geschichten in diesem Buch sind keine Ausnahmen, keine Einzelfälle, keine überzogenen Dramatisierungen«, versichert die Verdi-Vizebundesvorsitzende Christine Behle. »Es sind Berichte aus dem Alltag. Ein Alltag, der für viele pädagogische Fachkräfte zu einer dauerhaften Belastungsprobe geworden ist.«

Daniela Trochowski von der Rosa-Luxemburg-Stiftung fügt hinzu, dass Länder und Kommunen es nicht geschafft haben, »ausreichend Plätze und gute Bedingungen für Erziehung, Bildung und Betreuung in Kindertagesstätten zu schaffen«. Im Gegenteil: »In den letzten Jahren häufen sich Berichte über unhaltbare Zustände.«

Einer Verdi-Umfrage von Oktober 2024 zufolge möchten 27 Prozent des Kita-Personals den Arbeitsplatz wechseln. Nur 39 Prozent sagen, dass sie mehr Geld verdienen möchten. Für 73 Prozent jedoch ist die Arbeitsbelastung zu hoch. 72 Prozent der Befragten geben an, in ihrer Einrichtung seien freie Stellen nicht besetzt. Aus einem der Erfahrungsberichte im Kita-Krisenbuch geht hervor, dass Gruppen bei Personalmangel auf andere Gruppen aufgeteilt werden. Doch von Dezember 2023 bis Oktober 2024 habe es ganze sechs Tage gegeben, an denen keine Gruppe aufgeteilt gewesen sei. »Aus dem Notfallplan ist eine Dauerlösung geworden.«

»In den letzten Jahren häufen sich Berichte über unhaltbare Zustände.«

Daniela Trochowski Rosa-Luxemburg-Stiftung

Wird die Personalnot ganz schlimm, werden Öffnungszeiten eingeschränkt oder es gibt Schließzeiten. In einem Interview berichtet eine alleinerziehende Mutter und Elternvertreterin, sie habe schon erlebt, dass ihr kleiner Sohn öfter zu Hause gewesen sei als in der Kita. Und sie sagt: »Ich habe zwei Kündigungen von Eltern erlebt, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, weil sie zu oft wegen der Schließzeiten der Kita gefehlt haben.«

Die Erfahrungsberichte sind anonymisiert. Der Leser erfährt nicht, wo in der Bundesrepublik die geschilderten Zustände herrschen. Es könnte überall sein – sehr gut auch in Berlin. Hier weisen Erzieherinnen schon lange auf ihre Überlastung hin. Wegen eines registrierten Geburtenrückgangs wird für das Jahr 2028 damit gerechnet, dass es dann bei den unter Dreijährigen rund 20 000 Kita-Kinder weniger gibt. Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) will als Reaktion darauf nicht etwa 2400 Stellen abbauen, sondern den vorgegebenen Betreuungsschlüssel anpassen. Statistisch kommen jetzt 5,1 Kinder auf eine Vollzeitkraft. Ab Januar 2026 sollen es 4,6 sein, ab August 2026 dann 4,1. Das wäre ein erster Schritt zur Entlastung.

Der Betreuungsschlüssel sagt aber nichts darüber aus, wie viele Kinder eine Fachkraft tatsächlich betreuen muss. Denn immer fehlen Kolleginnen und Kollegen wegen Urlaub oder Krankheit. Durch die Überlastung häufen sich die Krankheitstage.

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