Proteste gegen Javier Milei: Antifaschismus wird intersektional

Nach einem Jahr unter Javier Milei ist der linke Protest gegen den politischen Umbau des Landes ungebrochen – trotz wachsender Repression

  • Nina Galla
  • Lesedauer: 10 Min.
Hunderttausende waren am 1. Februar in ganz Argentinien zu antifaschistischen und antirassistischen »Pride Parades« auf den Straßen.
Hunderttausende waren am 1. Februar in ganz Argentinien zu antifaschistischen und antirassistischen »Pride Parades« auf den Straßen.

Bei 38 Grad im Januar 2025 laufen in Buenos Aires alle Klimaanlagen auf Hochtouren und regelmäßig fallen die schlecht instand gehaltenen Stromnetze aus. Trotz der Temperaturen demonstrieren jeden Mittwoch Rentner*innen vor dem Kongress. Die kleine Protestgruppe wird regelmäßig von der Polizei angegriffen. Donnerstags erinnern die Madres de la Plaza de Mayo vor dem Regierungssitz Casa Rosada an die Verschwundenen der Militärdiktatur – auch sie sind nicht viele, bleiben aber vor Polizeigewalt verschont.

Mit Respekt vor der Erinnerungskultur hat das jedoch nichts zu tun. Denn die wichtigen Erinnerungsstätten an die Folter und Ermordungen, die sich auf dem Gelände der ehemaligen Marineschule ESMA befinden, sollen geschlossen werden. Als Protest dagegen findet dort Anfang Januar ein Festival statt. Tausende sind gekommen, Bands spielen, es gibt Dichterlesungen und Zeitzeugengespräche. Auf dem Fest singt auch der 39-jährige Musiker Santiago Adano, der erst vor wenigen Monaten wegen Terrorismus verhaftet wurde.

Nachbarschaften organisieren sich gegen Armut

»Hauptsache, es verändert sich was, egal wie«, sagte 2023, kurz vor der Wahl, noch ein Taxifahrer in Buenos Aires, repräsentativ für viele andere. Im Januar 2025, nach einem Jahr unter der neuen Regierung, hat sich tatsächlich viel geändert. Öffentliche Bildung, Gesundheit, Renten, Mieten – kaum ein Bereich des täglichen Lebens blieb von der symbolischen Kettensäge Mileis verschont. Die Lebensmittelpreise explodieren und es gibt immer mehr Obdachlose. Die Armut steigt rasant, auch unter Kindern; viele von ihnen durchsuchen Müll nach Essen. Gleichzeitig tobt ein Kulturkampf gegen alles, was links ist. Die Regierung leugnet die Klimakatastrophe genauso wie die steigende Zahl der Femizide und die Polizeigewalt.

Im Dezember 2023, kurz nach der Wahl, gründet sich im Bezirk Caballito eine neue Asamblea. Asambleas sind selbstorganisierte aktivistische Gruppen auf Bezirksebene. Bis zu 60 Anwohner*innen zwischen 20 und 40 Jahren treffen sich seitdem jeden Samstag, diskutieren über die Folgen des Demokratieabbaus, planen Aktivitäten und schaffen Angebote wie beispielsweise eine Suppenküche.

Einige in der Asamblea sind zum ersten Mal politisch organisiert, so auch der sanftmütige Sänger Santiago Adano. Schon immer war er politisch interessiert, nun spürt er, dass er auch politisch handeln muss. Er organisiert ein Kunstfestival mit. »Ich bin immer gerne mit Freunden auf Demos gegangen. Damals mussten wir noch nicht um unsere Grundrechte kämpfen«, erinnert er sich. »Doch nun ist Demonstrieren kein Vergnügen mehr, es ist eine Pflicht.« Er macht sich Sorgen um die Gemeinschaft: »Die sozialen Beziehungen fangen an, sich aufzulösen. Die wirtschaftliche Situation raubt vielen die Kraft für entsprechendes Engagement. Die Asambleas wollen dem entgegenwirken und auch die Gemeinschaft wiederherstellen.«

»Aufhören ist keine Option. Gerade ich sollte zeigen, dass ich mich nicht einschüchtern lasse.«

Santiago Adano Musiker

Eine der ersten Maßnahmen von Patricia Bullrich, der neuen Sicherheitsministerin unter Milei, war ein umfassendes Gesetzespaket, mit dem Proteste, die den Straßenverkehr blockieren würden, leicht verboten werden können. Trotzdem finden 2024 jede Woche irgendwo in Argentinien Demonstrationen statt. Die Energie der Protestierenden ist beeindruckend, aber auch ein Zeichen dafür, dass Armut und wirtschaftliche Not Menschen veranlasst, sich zusammenzuschließen und aktiv zu werden. Hinzu kommt ein tief verankerter Gemeinschaftssinn, der viele motiviert, miteinander und füreinander auf die Straße zu gehen. Anziehend wirkt dabei auch die Verknüpfung von Aktivismus mit Kreativität. Die soziale Hilfe in den Nachbarschaften, von der Suppenküche über Kleiderspenden bis zu Unterstützung bei Notfällen, hat Auswirkungen auf den konkreten Alltag der Menschen.

Die Gewerkschaften, traditionell sehr stark in Argentinien, haben im vergangenen Jahr zwei große Generalstreiks organisiert, aber bei anderen politischen Fragen wie beispielsweise der Bildungspolitik, entfaltet das gewerkschaftliche Engagement nur wenig Druck. Den 31-jährigen IT-Experten Dante, der nur mit Vornamen genannt werden möchte und der auch in der Asamblea Caballito aktiv geworden ist, motiviert das: »Wenn die Gewerkschaftsbosse nichts erreichen, organisieren wir uns eben selbst.«

Demonstrierenden wird Terrorismus vorgeworfen

Es kommt auf den Demos regelmäßig zu Verhaftungen, doch die Personen werden meist am gleichen Tag wieder freigelassen. Am 12. Juni demonstrieren Tausende gegen das Gesetzespaket »Ley Bases«, das dem Präsidenten weitgehende Befugnisse einräumen wird. Die Asamblea Caballito ist auch mit dabei. An diesem Tag greift die Polizei ungewohnt hart durch. Dante erinnert sich: »Wir wollten der Gewalt unbedingt entgehen. Dennoch sind wir in einen Polizeikessel geraten und haben Gummigeschosse und Tränengas abgekriegt.«

Auch in der drittgrößten Stadt Argentiniens Rosario (Santa Fe) demonstrierte im Februar die LGBTQIA+-Community.
Auch in der drittgrößten Stadt Argentiniens Rosario (Santa Fe) demonstrierte im Februar die LGBTQIA+-Community.

Die Gruppe kann sich danach in Sicherheit bringen. Santiago muss noch einmal zurück – er will sein Auto holen, das noch in der Nähe steht. Es ist ein sehr altes Fahrzeug, doch er hat lange dafür gespart und er hat Angst, weil bereits ein anderes Auto angezündet worden ist – von Agent Provocateurs der Polizei, wie die Demonstrierenden berichten.

An diesem Tag verhaftet die Polizei willkürlich einen 64-jährigen Empanada-Verkäufer, einen Kaffee-Verkäufer – und plötzlich auch Santiago. Videos zeigen, wie er am Ausgang einer U-Bahn-Station steht, wie Polizisten ihm auf die Schulter klopfen und wie er, nachdem er sich umgedreht hat, von mehreren Personen abgeführt wird. Bei der Verhaftung erleidet er eine Panik-Attacke. Insgesamt werden an diesem Tag 33 Personen verhaftet, größtenteils anlasslos. Und entgegen den bisherigen Erfahrungen werden sie nicht gleich wieder freigelassen. Patricia Bullrich und Staatsanwalt Carlos Stornelli werfen ihnen Terrorismus vor. Diese schwere Anschuldigung kann zu mehrjährigen Haftstrafen führen.

In den darauffolgenden Tagen dreht sich in der Asamblea Caballito alles darum, die Verhafteten aus den Gefängnissen zu bekommen. Die Aktivist*innen sammeln Videobeweise, kümmern sich um die Familien der Festgenommenen und protestieren erneut auf der Straße. Santiagos selbstgeschriebener Song »Amigo« (»Freund«) wird zu einer Art Solidaritätshymne.

Die Aufmerksamkeit reicht bis nach Deutschland: Als kurz darauf Milei zu Besuch bei Olaf Scholz ist, fordert Gregor Gysi den Bundeskanzler auf, auch die Situation der Menschenrechte in Argentinien anzusprechen. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Gruppe »Die Linke« heißt es später, der Bundesregierung lägen keine Informationen zu staatlichen Menschenrechtsverletzungen in Argentinien vor.

Santiago berichtet nach seiner Freilassung: »Mir wurde nicht einmal mitgeteilt, dass ich verhaftet bin, ich wurde nicht über meine Rechte aufgeklärt und durfte niemanden anrufen. Erst acht Stunden später kam ein Strafverteidiger ins Gefängnis.« Er hat mehrfach Glück: Seine Verhaftung wurde zufällig von einem TV-Team gefilmt, so konnte er seine Unschuld beweisen. Dennoch dauert es Monate, bis alle Vorwürfe gegen ihn fallen gelassen werden.

»Einige haben Angst bekommen«, berichtet Dante von der Asamblea. »Als wir angefangen haben, waren wir bei unseren wöchentlichen Treffen 60 Personen, jetzt sind es noch 30.« Santiago ergänzt: »Einige leiden immer noch schwer unter den psychischen Folgen der Verhaftungen, manche können nicht mehr arbeiten. Es sind auch Beziehungen zerbrochen.«

Die Gemeinschaft muss sich selbst schützen

Das Bonaparte-Krankenhaus ist spezialisiert auf die psychische Gesundheit. Es ist das Einzige seiner Art. Viele aus der Künstler*innen- und LGBTQIA+-Community, die von der aktuellen Regierung als Feinde betrachtet werden, gehören zu den Patient*innen. Da auch das Krankenhaus von Schließung bedroht ist, demonstrieren immer wieder Menschengruppen vor dem Gebäude für den Erhalt der Einrichtung. An einem Januarnachmittag ist dort auch das Banner der Asamblea Caballito aufgespannt. Menschen sitzen zusammen und trinken Mate, eine Trommelgruppe macht Stimmung. Ob oder wann die Polizei kommen wird, weiß Dante nicht: »Wir wissen, dass wir überwacht werden, auch online. Manches besprechen wir daher nur bei unseren Treffen. Wir achten darauf, wer bei uns mitmachen will und wir gehen nur noch in Gruppen auf Demos. Eine Person bleibt immer zu Hause als Notfall-Kontakt.«

Digitale Plattformen wie Whatsapp und Instagram spielen eine zentrale Rolle in der Kommunikation und Mobilisierung. Sie stehen kostenlos oder für wenig Geld zur Verfügung und werden bevorzugt genutzt. Dass ein neues Gesetz der Polizei erlaubt, auch Social Media zu überwachen, ist in der Asamblea weitgehend unbekannt. Tatsächlich, so berichten Jurist*innen, hat es schon Verhaftungen gegeben, die auf Kommunikation in sozialen Netzwerken zurückzuführen sind. Zu digitaler Sicherheit gibt es kaum Aufklärung. Geschützt werden die Aktivist*innen durch die Gemeinschaft: Je größer eine Demo ist, desto weniger Chance hat die Polizei, sie gewaltsam aufzulösen. Bei Verhaftungen wird empfohlen, Namen und Nummer des Personalausweises laut auszurufen, damit Umstehende die Daten aufnehmen können und die Verhafteten damit nicht einfach so »verschwinden« können.

Mileis Rede auf dem Wirtschaftsgipfel in Davos vereint Proteste

Im Januar ist noch Urlaubszeit, die Stadt ist ruhig. Am 23. des Monats spricht Javier Milei auf dem Wirtschaftsgipfel in Davos. Von der Wirtschaftspolitik schlägt er überraschend einen Bogen und beginnt mit Hetze gegen die in Argentinien große LGBTQIA+-Community. Er greift dabei besonders Homosexuelle an. Schon seit Beginn seiner Amtszeit hat er Linke als »Zurdos«, eine umgangssprachliche, abwertende Bezeichnung, beschimpft und bedroht. Den Hassreden sind längst Taten gefolgt, im Mai 2024 wurden drei lesbische Frauen getötet, kurz nach Mileis Rede im Januar wird ein homosexuelles Paar auf der Straße angegriffen.

An Urlaub denkt jetzt keiner mehr. Innerhalb weniger Stunden findet ein erstes Plenum der LGBTQIA+-Community im Park »Parque Lezama« statt. »Warum spricht er auf einem Wirtschaftsgipfel über uns?«, fragt sich Lucila Adano, die 33-jährige lesbische Schwester von Santiago, die sich zunehmend vor immer mehr Gewalt und immer weniger Rechtsstaatlichkeit in Argentinien fürchtet.

Auf dem Treffen wird erkennbar, dass die verschiedenen Entwicklungen miteinander zusammenhängen: der Hunger der Alten, Armen und Kranken, die Abwertung und Auslöschung der Erinnerung, die Gewalt und der Hass auf Linke – alles Signale einer neuen Diktatur. Die Community muss sehr laut werden, um Gehör zu finden. Schon am nächsten Abend treffen sich Tausende im Park. Sie organisieren eine Demonstration am 1. Februar. Ihre Entscheidungen fällen sie gemeinsam: Die Vorschläge werden präsentiert und die Menge stimmt mit Applaus darüber ab.

Es soll nicht nur ein Marsch der eigenen Community werden, sondern ein kollektiver Protest gegen Faschismus. In den darauffolgenden Tagen schließen sich auch die Gewerkschaften an, die Madres de la Plaza de Mayo, linke Parteien und sogar Popstars. »Mit seiner Rede in Davos hat Milei eine Grenze überschritten. Viele, darunter auch ehemalige Unterstützer, sind nicht länger bereit, die Menschenrechtsverletzungen hinzunehmen«, beobachtet Gabriela Mitidieri, Mitarbeiterin bei der 1979 gegründeten, größten Menschenrechtsorganisation Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS, Zentrum für Rechts- und Sozialwissenschaften) in Buenos Aires. Sie meint: »Es könnte eine Einigung geben, die einzelnen Kämpfe unter der inhaltlichen Klammer ›Antifaschismus‹ zusammenzubringen.« In der Community bildet sich der Begriff »Intersektionaler Antifaschismus« heraus.

Auch Santiago ist wieder dabei, er geht auch für seine Schwester mit: »Aufhören ist keine Option. Ich habe das Gefühl, gerade ich sollte zeigen, dass ich mich nicht einschüchtern lasse.« Er hält Milei für einen modernen Faschisten: »Selbst wenn die bisherige Faschismus-Definition, die auf nationale Abschottung zielt, nicht passt, sehen wir Gewalt, Mangel an Demokratie und die Verfolgung von Minderheiten durch die Regierung. Das ist eine Form des Faschismus unter dem Label des Liberalismus.« Gabriela Mitidieri teilt die Einschätzung: »Faschistische Regierungen sollten an ihrem Handeln und den Auswirkungen gemessen werden, nicht nur, ob sie alle Kriterien einer Definition erfüllen. Die Entmenschlichung von Minderheiten, der Aufbau eines Feindbilds und Menschen gegeneinander aufzubringen, ist faschistisch, da habe ich gar keine Zweifel.«

Auf den Demonstrationen mit dem Titel »Marcha Federal del Orgullo Antifascista y Antirracista« werden in ganz Argentinien dann Hunderttausende auf den Straßen gezählt. Die Veranstaltung in Buenos Aires ist zu groß für die Polizei, um sie zu zerschlagen. Diesmal bleibt alles friedlich. Auch der traditionelle Protestzug zum Frauentag am 8. März, der diesmal antifaschistisch ausgerichtet ist, ist groß und verläuft ohne Zwischenfälle. Die Madres de la Plaza de Mayo ziehen weiterhin jeden Mittwoch ihre Runden, ohne von der Polizei behelligt zu werden. Nur die Rentner*innen werden weiterhin angegriffen und niedergeschlagen. Jetzt bekommen sie Hilfe aus einer ganz ungewohnten Richtung: Die Fans mehrerer Fußballclubs haben sich organisiert, um den »Jubilados«, wie die Ruheständler*innen genannt werden, beizustehen und sie zu beschützen. Ministerin Patricia Bullrich hat beteiligten Fans mit Stadionverbot gedroht, sollte es zu Unruhen kommen.

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