• Politik
  • Tödliche Polizeischüsse

Erschossener in Dortmund war kein »Randalierer«

Nachbar*innen widersprechen Darstellung der Behörden zu tödlichem Polizeieinsatz

  • Friedrich Kraft
  • Lesedauer: 4 Min.
Einsatzkräfte am Tatort in Dortmund. Der Mann wurde von Rettungskräften behandelt und starb noch vor Ort.
Einsatzkräfte am Tatort in Dortmund. Der Mann wurde von Rettungskräften behandelt und starb noch vor Ort.

Am Freitag erschossen Polizist*innen in Dortmund Najib Boubaker vor seiner Haustür. In einer ersten Pressemitteilung der Polizei wurde der 70-jährige Epileptiker als »Randalierer« bezeichnet, der zu einem Messer gegriffen habe. Diese Darstellung fand sich schließlich auch in Presseberichten zu den tödlichen Schüssen – Recherchen des »nd« verweisen jedoch auf einen anderen Tathergang.

Der aus Tunesien stammende Boubaker starb an einem einzelnen Bauchschuss, abgegeben aus einer Polizeiwaffe. Die Beamt*innen seien im Stadtteil Scharnhorst zur Unterstützung eines Einsatzes der Feuerwehr – gemeint war ein Rettungswagen – hinzugezogen worden, heißt es dazu in der Pressemitteilung der Behörden. Dabei sei es »zu dem Gebrauch der dienstlichen Schusswaffe« gekommen. Keine Stunde später verkündet eine zweite Mitteilung den Tod des Mannes; er erlag noch am Tatort seinen Verletzungen.

Die Mitbewohnerin Boubakers, so erzählen es Nachbar*innen dem »nd« tags drauf, habe den Notarzt gerufen, nachdem er epileptische Anfälle erlitten habe. Gerüchte über einen vorherigen Streit des Mannes und seiner Mitbewohnerin können die Augenzeug*innen nicht bestätigten. Dem öffentlich gezeichneten Bild des Opfers widersprechen sie aber vehement.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

In der Scharnhorster Wohnsiedlung war der passionierte Motorradfahrer Boubaker – nach Informationen des »nd« seit Langem deutscher Staatsbürger – gut bekannt. Ebenso bekannt war, dass er gesundheitliche Probleme hatte. Dem humpelnden Mann habe man dies deutlich angesehen, heißt es. Zu Beginn des Jahres soll er noch mehrere Wochen im Krankenhaus gewesen sein.

In ihrer ersten Mitteilung hatten Polizei und Staatsanwaltschaft geschrieben, dass der Getötete mit einem Messer hantiert haben soll. Er habe außerdem »ablehnend gegenüber den Sanitätern« gehandelt, wird der ermittelnde Staatsanwalt Felix Giesenregen in den lokalen Ruhrnachrichten zitiert. Nach nd-Recherchen wollte ihn der Rettungsdienst wegen der epileptischen Anfälle in ein Krankenhaus bringen, Boubaker hingegen wollte zu Hause bleiben.

Noch in der Wohnung habe Boubaker zu einem Küchenmesser »gegriffen«, sagt Staatsanwalt Felix Giesenregen. Der Rettungsdienst habe daraufhin die Wohnung verlassen und die Polizei gerufen. Mit Eintreffen der Beamt*innen verlagerte sich die Situation in den Vorgarten. Das Opfer soll dort mit dem Messer auf die Polizei zugegangen sein. Nach Androhung des Schusswaffengebrauchs habe er sich umgedreht und sei in Richtung des Hauses gegangen. Dann soll er erneut »unter Vorhalt des Messers« auf die Polizist*innen zugelaufen sein, erklärte der Staatsanwalt Giesenregen am Montag gegenüber »nd«. Auf Nachfrage konkretisiert er: Dies sei »schnellen Schrittes« passiert – angesichts der Gehbehinderung von Boubaker ist dies jedoch zweifelhaft.

Die Einschätzungen der Staatsanwaltschaft basieren auf Aussagen von Zeug*innen. Videoaufnahmen der Situation lägen nicht vor, die Bodycams der Polizist*innen seien nicht eingeschaltet gewesen, erklärt Giesenregen und nennt dafür keinen Grund. Auch bei dem beim bundesweit Aufmerksamkeit erregenden Fall der Tötung des jungen Senegalesen Mouhamed Dramé vor zwei Jahren in Dortmund war dies der Fall.

Am Montagmorgen hat die Polizei in Herne einen weiteren Mann erschossen. Auch dieser Einsatz soll »bezüglich eines ›Randalierers‹« erfolgt sein.

Giesenregen bestätigt jedoch weitere Recherchen des »nd«: Gleich mehrere Dienstwaffen waren auf Boubakar gerichtet, nach Aussagen aus der Nachbarschaft sei sein Haus sogar regelrecht umstellt gewesen. Die Augenzeug*innen wundern sich, wieso nicht zuerst Pfefferspray eingesetzt wurde. Der Staatsanwalt untermauert auch dies: Es habe seiner Kenntnis nach lediglich die Androhung des Schusswaffengebrauchs gegeben, nicht aber von Pfefferspray oder Tasern.

Eine Augenzeugin erklärt gegenüber dem »nd«, die Polizei habe es Bekannten von Boubaker untersagt, bei der Entschärfung der Situation zu helfen und ihn zu bewegen, das Messer wegzulegen. Ein anderer Zeuge bezeichnet den Polizeieinsatz als »hysterisches Rumgeschreie, unprofessioneller Kindergarten«.

Aus »Neutralitätsgründen« ermittelt nun, wie in derartigen Fällen üblich, die Polizeibehörde im benachbarten Recklinghausen. So erfolgte es seit den Schüssen auf Dramé in 2023 auch bei anderen tödlichen Polizeieinsätzen der vergangenen Jahre in Dortmund. Im Fall des senegalesischen Flüchtlings wurden alle angeklagten Polizist*innen im Dezember 2024 freigesprochen; in allen anderen Fällen wurden die Ermittlungen ohne Anklagen eingestellt.

Eine Nachfrage des »nd« bei der Pressestelle der Dortmunder Polizei, aus welchen Gründen sie Boubaker als »Randalierer« bezeichnete, blieb unbeantwortet. Am Montagmorgen hat die Polizei in Herne einen weiteren Mann erschossen – es ist nach Zählungen der Zeitschrift »Bürgerrechte&Polizei/CILIP« der siebte Polizeitote in diesem Jahr. Der offiziellen Mitteilung zufolge soll auch dieser Einsatz »bezüglich eines ›Randalierers‹« erfolgt sein. Wieder heißt es, das spätere Opfer ging »mit einem Messer auf die eingesetzten Polizeibeamten los«. Eine Darstellung, die sich zumindest im Dortmunder Fall als tendenziös herausstellt.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -