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Transsexualität: »Wir können euch hier nicht helfen!«
Menschen, die ihr Geschlecht zum nicht-binären ändern, fallen durch gesellschaftliche Raster
Arlo will den Körper am besten gar nicht spüren. In den Spiegel schauen, Kleidung auswählen, duschen, anziehen – diese alltäglichen Routinen machen Arlo traurig. Wenn es gar nicht geht, legt sich Arlo auf den Boden und ist ganz still. Nur wenn sich nichts bewegt, kann they* den eigenen Körper ertragen. Arlo leidet unter einer Körperdysphorie, die ein soziales und körperliches Unwohlsein im eigenen Körper auslöst. Besonders unangenehm sind die Brüste. Jede Bewegung erinnert Arlo an deren Existenz. In verzweifelten Situationen will Arlo sie einfach abschneiden.
Arlo hat einen Lockenkopf, eine kleine Statur und strahlt Wärme aus. They erzählt, dass es seltsam sei, mit Frau angesprochen zu werden. »Es fühlt sich falsch an, Frau Arlo ist doch meine Mutter und meine Großmutter.« Arlo ist nicht-binär und hatte vor kurzem eine Mastektomie, einen operativen Eingriff, um das Brustgewebe entfernen zu lassen.
Auch Jay und Nox definieren sich als trans* und nicht-binär, eine Geschlechtsidentität, bei der man sich weder als Frau noch als Mann fühlt. Nox ist groß, elegant, trägt schwarze Kleidung und hat ein Auge fürs Detail. Jay wird mit den Sneakern, zurückgegeltem Haar und einer lauten Stimme häufig mit 14-jährigen Jungen verwechselt, wären da nicht die Brüste. »Frauen sprechen mich häufig an und sagen: ›Oh mein Gott, ich hätte so gerne deine Brüste!‹ Und ich sage: ›Nimm sie, bitte! Ich will sie nicht haben!‹« Doch anders als bei trans* Männern und Frauen bezahlt die gesetzliche Krankenkasse bei nicht-binären Personen nicht die Kosten für eine geschlechtsangleichende Operation, um eine Körperdysphorie zu behandeln. Eine solche OP erlaubt queeren Menschen, sich an das eigene Geschlecht anzunähern, indem man physische Merkmale, die häufig Frauen oder Männern zugeschrieben werden, hinzufügt oder entfernt.
Doch laut einem Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2023 sind Operationen bei nicht-binären Menschen eine neue Untersuchungskategorie und benötigen eigene Behandlungsmethoden. Auf diese bestehe erst Anspruch, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss der gesetzlichen Krankenkasse (GKV) eine entsprechende Empfehlung dazu abgibt. Der GKV-Spitzenverband, der die Interessen der Krankenkassen repräsentiert, erklärt auf Nachfrage der Redaktion: »Nach bisheriger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist Transsexualität aufgrund des gebrochenen geschlechtsspezifischen Identitätsbewusstseins ein regelwidriger Zustand.« Dieser stelle erst dann eine Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne dar, »wenn die innere Spannung zwischen dem körperlichen Geschlecht und der seelischen Identifizierung mit dem anderen Geschlecht eine derartige Ausprägung (krankheitswertiger Leidensdruck) erfahren hat, durch die sich die Regelwidrigkeit erst zur eigentlichen Krankheit im Sinne von Paragraf 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V qualifiziert«.
Aber Arlo braucht medizinische Hilfe. They fängt an, im Internet zu recherchieren, liest Erfahrungsberichte von anderen trans* Menschen und bucht einen Termin bei einer Beratungsstelle für trans* Personen. Arlo sucht nach passenden Mediziner*innen. Manche Adressen verwirft they sofort, weil sie Transsexualität immer noch als Krankheit beschreiben oder ein psychologisches Gutachten verlangen. Gleichzeitig sucht Arlo nach einer Hormontherapie, um die Dysphorie durch die Stimme und während der Periode zu behandeln.
Nach langem Herumtelefonieren und einer sechsmonatigen Wartezeit trifft Arlo eine Endokrinologin. Diese Mediziner*innen behandeln Hormon- und Stoffwechselerkrankungen. Für trans* Menschen sind sie wichtig, um sich dem eigenen Geschlecht anzugleichen. Das Treffen ist aber eine Enttäuschung. Statt beraten zu werden, erklärt die Ärztin Arlo, dass sie nur »richtige« trans* Menschen behandelt, dafür habe sich die Praxis aus persönlichen Gründen entschieden. Schockiert, traurig und wütend muss Arlo weitersuchen. Jedes Mal, wenn they den Hörer in die Hand nimmt, bekommt they ähnliche ablehnende Antworten von gestressten Arzthelfer*innen. Bei einem Telefonat hört Arlo im Hintergrund eine zweite Person sagen: »Wimmel sie ab. Leg einfach den Hörer auf.« Eine Person schreit Arlo über das Telefon an: »Wir können euch hier nicht helfen!« Das ist die Nachricht, mit der Arlo die ganze Zeit konfrontiert ist. Wir haben keinen Platz für dich, für euch als Gruppe.
Jay, Arlo und Nox werden wie viele trans* nicht-binäre Menschen dazu gezwungen, sich zu entscheiden: Entweder sie leiden weiter unter ihrer Körperdysphorie, während sie sich einem langwierigen Prozess unterziehen, als trans* Männer operiert zu werden – diese Identität wird von Ärzt*innen häufig sowieso angenommen, und so können sie die Kosten der OP erstatten lassen. Oder sie zahlen 8000 bis 10 000 Euro und finanzieren die Operation selbst.
Diese Situation ist nur ein Beispiel, wie schwer es für trans* nicht-binäre Personen ist, in Deutschland zu leben. »Ich kann mein Geschlecht nicht auf meiner Aufenthaltserlaubnis in divers ändern«, erklärt Jay. »Ich habe es nicht in mir, mich als trans* Mann zu präsentieren und meinen Namen und mein Geschlecht zu ändern, um an eine Gesundheitsversorgung zu kommen, die ich brauche.« Sich als nicht-binär im Alltag zu präsentieren, sei auch keine Option. »In vielen Situationen, in offiziellen Formularen und sogar bei der Krankenkasse geht das nicht.«
Nox hat sich auch für eine Mastektomie entschieden. Aber es ist schwierig, Mediziner*innen zu finden, die Nox’ Identität verstehen und diese respektieren. In der Vergangenheit hatte they bei anderen medizinischen Eingriffen bereits schlechte Erfahrungen gemacht.
»Frauen sprechen mich häufig an und sagen: ›Oh mein Gott, ich hätte so gerne deine Brüste!‹ Und ich sage: ›Nimm sie, bitte! Ich will sie nicht haben!‹«
Jay
Auch Arlo ist oft frustriert und verspürt einen Druck, Ärzt*innen und Krankenkassen beweisen zu müssen, ob man trans* genug ist, um behandelt zu werden. Krankenkassen fordern psychologische Gutachten an und Statements über die eigene Biografie, über sexuelle Erfahrungen und Präferenzen. Das findet Arlo verletzend.
Ein gewichtiger Grund, warum alle drei beschlossen haben, nicht den Geschlechtseintrag im Pass auf divers zu ändern, ist die Sorge, dann einfacher diskriminiert und herausgestellt werden zu können. Schließlich sind rechtsextreme Meinungen mehrheitsfähig geworden. Auf ihrer Website schreibt die AfD beispielsweise: »Die Gender-Ideologie marginalisiert naturgegebene Unterschiede zwischen den Geschlechtern und stellt geschlechtliche Identität infrage. Sie will die klassische Familie als Lebensmodell und Rollenbild abschaffen.« Ebenso behauptete der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, das Geschlecht sei nicht ein rein soziales Konstrukt und nicht beliebig und frei wählbar. Die CDU/CSU plant, das Selbstbestimmungsgesetz abzuschaffen. 2023 wurden nach Angaben des Bundeskriminalamts 1785 Straftaten gegen LGBTQIA*-Menschen begangen. Die Zahl hat sich seit 2010 fast verzehnfacht, und es wird von einer viel höheren Dunkelziffer ausgegangen.
Arlo finanziert die Operation schließlich selbst. Nach zwei Beratungsterminen mit verschiedenen Chirurg*innen, die bezahlt werden müssen, hat they einen Termin mit einem Honorar: 8500 Euro muss Arlo innerhalb von sechs Wochen bis zum OP-Termin auftreiben. Nachdem they die gute Nachricht mit Freund*innen geteilt hat, muss das Geld für die OP zusammenkommen. Sie recherchieren gemeinsam nach Fundraising-Möglichkeiten, schreiben Texte, suchen Fotos aus, stellen einen Appell ins Netz. Arlo wendet sich an alle Freund*innen, bittet sie darum, etwas zu spenden und den Link in ihren Netzwerken zu teilen. Freund*innen organisieren WG-Partys mit einer Spendenbox, Versteigerungen finden statt, es gibt Kuchenverkäufe, und Plätze auf Flohmarktständen werden mit Arlo geteilt. They ist bewegt, wie viele Leute bereit sind, zu geben und zu helfen, aber manchmal bedrückt they das Gefühl, den eigenen Beliebtheitsgrad messen zu müssen. Außerdem hat they Angst, durch Schulden in eine Armutsspirale zu fallen.
Am Tag der OP geht Arlo früh ins Krankenhaus und wird im Krankenbett in den Operationsraum gerollt. Arlo ist überrascht, wie wenig Angst they hat und wie sehr they sich auf die OP freut, dann wird alles schwarz. Als Arlo erwacht, bemerkt they zuerst die Schmerzen. Alles ist abgeklebt, man kann nichts sehen. Am nächsten Tag, als die Pflaster gewechselt werden, ist Arlo überrascht, dass die Brust nicht ganz flach ist. Der Arzt erklärt, dass es an den Schwellungen liege, die Wunden müssten erst einmal heilen. Das Resultat werde erst in einem Jahr sichtbar sein. Rückblickend hätte sich Arlo mehr Aufklärung gewünscht.
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Der Heilungsprozess dauert lange. Es war schließlich ein recht großer Eingriff, die Narben gehen über den ganzen Brustkörper, und Arlo muss lernen, sich selbst zu helfen. Wie müssen die Narben gepflegt werden? Was ist jetzt alles zu beachten? Wie muss man den Körper mobilisieren? Bei einer anderen ähnlich großen OP hätte die Krankenkasse die Kosten für eine Reha übernommen. Stattdessen muss Arlo sich das Wissen selbst erarbeiten, Hilfe suchen und diese finanzieren.
Letztlich wünschen sich Arlo, Nox und Jay, als Person gesehen und behandelt zu werden. Nox würde gerne einfach nur zum Hausarzt gehen können und sagen: »Ich bin trans* und ich benötige eine entsprechende Gesundheitsversorgung.« Arlo ist nach der OP zufrieden, wie sich die Brust jetzt anfühlt. »Jetzt ist das schlimme Gefühl weg, das mich gelähmt hat. Jetzt ist es so, dass ich Lust habe, Sachen zu machen und meinen Körper zu benutzen. Da ist so ein riesiger Unterschied, befreiend und schön.«
*They/them sind englische Pronomen, die Alternativen zu »sie« (weiblich) und »er« (männlich) bieten und somit eine binäre Geschlechtereinteilung erweitern. Die Pronomen werden häufig in der queeren Szene verwendet.
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