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Ein Text mit Lücken

Annegret Liepold im Gespräch über ihren Roman »Unter Grund«

  • Sascha Sefferin
  • Lesedauer: 6 Min.
Schweigsam wie ein Turnschuh: Die alten und die neuen Nazis
Schweigsam wie ein Turnschuh: Die alten und die neuen Nazis

In Ihrem Roman »Unter Grund« geht es ums Schweigen: um Beate Zschäpe, um den Angeklagten André Eminger, der im NSU-Prozess ein T-Shirt mit einem Zitat aus dem »Treuelied« der SS trug »Brüder schweigen« –, und um andere schweigende Alt- und Neonazis. Wie findet man dafür die richtigen Worte?

Das Schweigen hat sich als Motiv immer weiter in den Text gefressen. Eine der ersten Szenen des Romans war die zwischen der Protagonistin Franka und ihrer Mutter beim Mittagessen – wo das Nicht-Gesagte dröhnend wird zwischen all den Nebensächlichkeiten, die sie über einem Teller Spaghetti austauschen. Das Schweigen beginnt aber nicht mit den beiden, sondern umspannt Generationen und spinnt sich fort. Franka hat in ihrer Familie das Sprechen nicht gelernt, also findet sie später auch keine Worte, um ihrer besten Freundin davon zu erzählen, dass sie als Jugendliche Teil einer rechten Clique war.

Um so ein jahrzehntelanges Schweigen zu brechen, braucht es aber natürlich auch die richtigen beziehungsweise aufrichtige Worte. Das fand ich im NSU-Prozess auf bedrückende Weise gespiegelt. Jahrelang hatten die Angehörigen der Opfer und die Öffentlichkeit darauf gewartet, dass die Hauptangeklagte spricht. Aber dann war Zschäpes Aussage der Tiefpunkt der Verhandlung, weil klar wurde: Sie wird nichts aufklären und keine Erkenntnisse liefern, es geht nur um ihre persönliche Eitelkeit. Durch ihr geschwollenes Schweigen blasen sich die Rechten auf und machen sich wichtig, obwohl sie gar nichts zu sagen haben. Es ärgert mich in Bezug auf unsere Gesellschaft, dass wir durch unser eigenes Schweigen – etwa was die Rolle unserer Groß- und Urgroßeltern im Zweiten Weltkrieg angeht – den Rechten heute die Macht geben, die Vergangenheit zu ihren Gunsten umzudeuten.

Der Roman beginnt mit dem NSU-Prozess, aus dem die Protagonistin Franka flüchtet. Wie entstand die Idee zu dieser Szene?

Für mich war beim Schreiben die Auseinandersetzung mit dem NSU-Prozess sehr wichtig. Einerseits weil ich selbst bei einem Besuch des Prozesses realisiert habe, dass die Nazis, die in meiner Jugend in Mittelfranken aktiv waren, zum engeren Kreis rund um das NSU-Trio gehört haben. Also dass das, was uns als »Dorfnazis« verkauft wurde, in Wahrheit extrem radikalisierte und deutschlandweit gut vernetzte Neonazis waren. Andererseits bin ich während des Schreibens immer wieder auf das NSU-Protokoll zurückgekommen. Weil so ein Gerichtsprozess extrem viel über die Gesellschaft im Allgemeinen verrät, ihre Bereitschaft aufzuklären oder in diesem Fall umgekehrt: den Aufwand, den sie betreibt, um das nicht zu tun.

So gesehen wusste ich relativ früh, dass der NSU-Prozess, den meine Protagonistin als Erwachsene besucht, der Auslöser ist, der sie zu den Umständen ihres eigenen Jugendprozesses zurückbringt. Der Prozess ist vielleicht ein Scharnier zwischen der Romanhandlung und der Realität.

Interview

Annegret Liepold wurde 1990 in Nürnberg geboren und hat Komparatistik und Politikwissenschaften in München sowie in Paris studiert. Ihre literarische Arbeit wurde mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht und mit Stipendien gefördert. Bei dem kürzlich erschienenen Werk »Unter Grund« handelt es sich um ihren Debütroman.

Der Großteil des Romans spielt bei Nürnberg, wo Sie geboren wurden und aufgewachsen sind. Wie viel persönliche Geschichte ist da eingeflossen?

Die Frage, wie eine Familie mit Trauer umgeht, zum Beispiel. Und mein Bruder, der schon als Kind einen Angelschein gemacht hat, hat mir unheimlich viel Wissen über die Landschaft vermittelt. Er ist der, der dageblieben ist, während ich immer nur wegwollte. Das Thema »in der Provinz bleiben oder wegziehen« wird auch im Roman verhandelt. Mich haben aber auch die NPD-Versammlungen und Rechtsrockkonzerte beschäftigt, die in meiner Jugend in meinem Heimatdorf stattgefunden haben. Und dass ich vor meinen Zwanzigern nie auf dem Jüdischen Friedhof im Nachbarort gewesen bin. Die Shoah war für mich lange etwas Abstraktes und nicht etwas, das unmittelbar mit meiner Herkunft zu tun hat.

Es wird auch ein Finger in die Wunde der Firma Adidas gelegt, die in Franken ansässig ist und im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter*innen eine Panzerabwehrwaffe, den sogenannten Panzerschreck, für den Krieg hat produzieren lassen. Und um den Umgang mit dem Eigentum jüdischer Menschen. Rechnen Sie mit kritischen Rückmeldungen vor Ort?

Ich glaube nicht, dass es eine Reaktion geben wird. Die Rolle der Dassler-Brüder im Zweiten Weltkrieg ist ja allgemein bekannt – immerhin haben sie sich darüber zerstritten, dass der eine Bruder den anderen der Denunziation vor den Spruchkammern verdächtigt hat. Darin liegt die Wiege der zwei Unternehmen Puma und Adidas. Und auch die Firmen selbst wissen um ihre Vergangenheit, es ärgert mich nur maßlos, dass sie sich nicht offen dazu bekennen und damit auch noch durchkommen. Umso mehr hat sich das Adidas-Outlet in Herzogenaurach als Schauplatz für den Roman aufgedrängt. Schon die Architekten schreiben programmatisch über den Gebäudeentwurf, dass dafür »Landschaft und Bewegung die Katalysatoren« gewesen seien, der Baukörper wird als »sich aufwölbende Erdschicht« bezeichnet. Das Outlet ist also ganz bewusst Bestandteil der Landschaft und steht symbolisch für deren Verdrängungskultur. Zumindest lädt die »Leinwand mit Projektionsfläche« auf dem Dach des Gebäudes zu Interpretationen ein.

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Würden Sie »Unter Grund« als engagierte Literatur bezeichnen, für die die Lesenden nach Sartre in der Freiheit der Rezeption Verantwortung übernehmen? Und falls ja: Wie könnte diese Verantwortung aussehen?

Dass der Text Lücken lässt und den Lesenden nicht jede Deutung vorgibt, ist mir sehr wichtig. Ich wollte nicht, dass man die Gründe, warum Franka in die rechte Szene einsteigt, an den Fingern aufzählen oder die Ursache auf einen Faktor reduzieren kann, etwa: die Verstrickungen der Großmutter, der Tod des Vaters, die Verbundenheit zur Natur etc. Es ist all das und es ist nichts davon. Franka könnte jederzeit Nein sagen, und den Weg, den sie eingeschlagen hat, nicht weitergehen. Das sagt der Text nicht, weil Franka sich selbst dessen nicht bewusst ist. Aber ich fände es durchaus angemessen, wenn Leser*innen sich darüber ärgern und ihr das vorwerfen. Mein Idealfall von Verantwortung wäre aber: dass man beginnt, die eigene Rolle und Vergangenheit aufrichtig zu befragen und Geschichte als etwas Unabgeschlossenes zu begreifen.

Und welche Funktion nehmen die gelungenen Naturbeschreibungen in Ihrem Roman ein?

Die Landschaft ist für mich die eigentliche Protagonistin. Oft ist der eigene Text ja schlauer als man selbst. Als Franka ihren Namen bekommen hat, war mir noch nicht klar, dass der Text auch wirklich in Franken spielen wird. Aber natürlich war der Ort damit längst gesetzt. Wir werden ja nicht nur von den Menschen geprägt, mit denen wir aufwachsen, sondern auch durch unsere unmittelbare Umgebung. Ich glaube, bei Oskar Pastior habe ich das mal gelesen, dass jemand, der in den Bergen aufgewachsen ist, auch die nicht bergige Landschaft mit der Prägung des Bergblicks beschreibt. Vielleicht war das genaue Hinsehen und Beschreiben der Natur für mich eine Art Verortung: Wo komme ich her, wovon ist meine Sprache geprägt – was ist da, auch wenn es nicht sichtbar ist?

Annegret Liepold: Unter Grund. Penguin, 256 S., geb., 24 €.

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