Argentiniens Ruheständler laufen Sturm

Die Regierung passt die Renten nicht an die rasant steigenden Preise an

  • Gerhard Dilger, Buenos Aires
  • Lesedauer: 5 Min.
Prügel auf den Demonstrationen für bessere Renten wie hier am 5. März in Buenos Aires sind an der Tagesordnung, ohne Ansehen der Person oder Rücksicht auf das Alter.
Prügel auf den Demonstrationen für bessere Renten wie hier am 5. März in Buenos Aires sind an der Tagesordnung, ohne Ansehen der Person oder Rücksicht auf das Alter.

Es sind unruhige Tage in Argentinien. Am heutigen Mittwoch wollen in der Hauptstadt erneut Zehntausende gegen die Rentenpolitik des ultrarechten Präsidenten Javier Milei demonstrieren, und die Regierung macht keine Anstalten, die explosive Lage zu entschärfen. Im Gegenteil: Auf einer Pressekonferenz im Präsidentenpalast goss die olivgrün gekleidete Sicherheitsministerin Patricia Bullrich am Montag noch einmal Öl ins Feuer. Sie verteidigte den Polizisten, der am vergangenen Mittwoch beim Rentner*innenprotest eine Tränengaspatrone auf den Fotografen Pablo Grillo abgefeuert hatte. Der 35-jährige Grillo wurde am Kopf getroffen und ringt in einem Krankenhaus um sein Leben. »Der Polizist hat sich regelkonform verhalten«, behauptete Bullrich erneut. »Es ist nicht korrekt, dass man jetzt auf ihn zeigt und nicht auf die Tausenden, die kamen, weil sie die Regierung stürzen wollten.«

Bullrichs mehrfacher Versuch, das Narrativ eines »versuchten Staatstreichs« zu verbreiten, ist ein Zeichen ihrer Ratlosigkeit. In den Medien und in den sozialen Netzwerken wurden die Gewaltszenen rund um den weitläufigen Kongressplatz vielfach dokumentiert, so auch dank einer Fotografin und der Drohne eines TV-Senders minutiös der Vorgang, bei dem ein dabei identifizierter Polizist Grillo mit einem horizontalen Schuss niederstreckte. Polizeiautos und Müllcontainer wurden von Randalierern in Brand gesteckt, aber teilweise offenbar auch von infiltrierenden Provokateuren. Javier Milei sagte danach auf einer Agrarmesse: »Wir regieren für die guten Argentinier, nicht für die Verbrecher.« In Anspielung auf die blauen Polizeiuniformen führte er aus: »Die Guten sind die Blauen, und die Hurensöhne, die mit vermummtem Gesicht Autos zerstören und verbrennen und alle bedrohen, weil sie ihre Privilegien nicht verlieren wollen, das sind die Bösen, die ins Gefängnis gehören, und wir werden sie ins Gefängnis stecken.«

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Protest im Trikot seines Klubs Chacarita Juniors

Zehntausende hatten vergangene Woche die Kundgebung der Rentnerinnen und Rentner unterstützt, die sich seit Monaten mittwochs vor dem Kongress versammeln. Mit von der Partie waren diesmal Fans von mindestens 20 Hauptstadtclubs. Sie hatten sich mit dem 75-jährigen Rentner Carlos Dawlowfki solidarisiert, der durch den mehrfachen Protest im Trikot seines Klubs Chacarita Juniors bekannt geworden war. Ein Spruch des 2020 verstorbenen Nationalhelden Diego Maradona aus dem Jahr 1992 wurde zum inoffiziellen Motto der Kundgebung: »Man muss schon ein großer Feigling sein, wenn man die
Rentner nicht verteidigt.« Maradona fügte noch hinzu: »Bis zum Tod stehe ich auf der Seite der Rentner, was sie mit ihnen machen, ist eine Schande.«

Für Carlos Pagni, den renommierten Kolumnisten der konservativen Tageszeitung »La Nación«, war der Protest vor allem »kirchneristisch«, also bestimmt von der peronistischen Opposition um Ex-Präsidentin Cristina Kirchner (2007–2015).

Bullrich machte die gefürchteten Fanclubs, die »Barras bravas«, und peronistische Bürgermeister aus dem Vorstadtgürtel verantwortlich für die Gewalt. Vor dem Kongressgebäude, so erzählt es die Kellnerin eines nahegelegenen Cafés am Tag danach, gingen schwer bewaffnete Einheiten der Bundespolizei, der Gendarmerie und der Stadtpolizei mit großer Brutalität auf die Demonstrant*innen los. Sie setzten Schlagstöcke, Wasserwerfer, Tränengas und Hartgummikugeln ein. Bullrichs Version lautet hingegen so: »Die Sicherheitskräfte warteten eine lange Zeit ab, ohne einen einzigen Schuss abzugeben. Sie wollten sehen, was die Pseudodemonstranten, Rowdys und Gewalttäter auf dem Platz machen.«

Als die Wasserfontänen und die Tränengasschwaden das Verweilen auf dem Kongressplatz unmöglich machten, setzten sich Tausende in Richtung Plaza de Mayo in Bewegung. »Alle sollen abhauen«, skandierten sie, ein Gesang aus der stürmischen Jahreswende 2001/2002. Fans von Boca Juniors und River Plate und anderer Erzrivalen zogen einträchtig nebeneinander her, Maradona-Trikots hatten Hochkonjunktur.

Präsident Milei verliert an Zustimmung

Nach den großen, friedlichen Demonstrationen vom 1. Februar und dem 8. März, als Hunderttausende Frauen und LGBTQ+-Aktivist*innen für ihre bedrohten Rechte und gegen Milei marschierten, war auf dem Protest für die Rentner*innen eine andere Dynamik zu spüren. Hier waren die meisten Teilnehmer*innen ebenfalls Unorganisierte, auch wenn wieder viele Peronisten und die diversen trotzkistischen Kleinparteien präsent waren. Vor allem aber haben der von Milei ausgelöste Kryptogate-Skandal um die Digitalwährung $LIBRA und die anhaltende Konsumflaute einen Stimmungsumschwung befördert, der die Sympathiewerte für den Präsidenten in den vergangenen Wochen deutlich sinken ließ.

Am Ende der Avenida de Mayo versperrten Dutzende Polizist*innen in Kampfmontur den direkten Zugang zum Platz. Auf Seitenstraßen war dieser jedoch leicht zu erreichen, alles schien friedlich. Auf Befehl von oben stürmten die Einheiten von der Straßenbarriere urplötzlich den Platz, auf dem sich nur ein paar hundert verstreute Demonstrant*innen, Passant*innen und Tourist*innen aufhielten. Uniformierte auf Motorrädern feuerten Gummigeschosse auf die panisch fliehenden Menschen, in drei Minuten war die Plaza de Mayo leergefegt.

Insgesamt wurden mindestens 100 Personen verletzt und über 150 weitere festgenommen, aber rund acht Stunden später nach einem Beschluss der Richterin Karina Andrade wieder freigelassen. Sicherheitsministerin Bullrich reichte am Montag eine Strafanzeige gegen Andrade ein. Ihr Handeln sei »rein ideologisch« motiviert gewesen, heißt es da, Vorstrafen oder Beweise habe sie ignoriert.

Warum bleiben Milei und Bullrich bei ihrer harten Linie? Kritiker*innen vermuten ein Ablenkungsmanöver. So soll auch heute wieder parallel zur Kundgebung das Parlament beraten, unter anderem über ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds. Pikant dabei: Knapp ein Viertel der 43 Milliarden US-Dollar, die Milei in 14 Monaten seiner Regierung eingespart hat, ging auf Kosten der Rentner*innen, so hat es der Ökonom Alejandro Bercovich errechnet.

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