Otto Nagel: Mit Leidenschaft, Zorn und Hoffnung

Vor 100 Jahren reiste der Künstler und Kommunist Otto Nagel für revolutionäre Kunst durch die Sowjetunion

  • Christian Hufen
  • Lesedauer: 13 Min.
Otto Nagel und seine Frau Walli beim Aufbau der Kollwitz-Ausstellung 1932 in Leningrad.
Otto Nagel und seine Frau Walli beim Aufbau der Kollwitz-Ausstellung 1932 in Leningrad.

Heute vor 100 Jahren weilte Otto Nagel an der Wolga, über 2000 Kilometer vom heimatlichen Wedding entfernt. Es war die erste Auslandsreise des Kommunisten und Künstlers. Er kam in friedlicher Absicht, mit rund 500 Werken deutscher Künstler im Gepäck, die in der Sowjetunion gezeigt werden sollten. Nagel war der Kurator der Ersten Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung, die 1924/25 in Moskau, Saratow und Leningrad gastierte. Ein Künstler-Autodidakt aus proletarischem Milieu als Cheforganisator, Reisebegleiter und Vermittler der ersten deutschen Kunstausstellung in Russland überhaupt! Nagel war der geeignete Mann am richtigen Ort. Er suchte den Kontakt zum fremden Publikum, führte persönlich durch die Säle, nahm an Podiumsdiskussionen teil, publizierte in der Sowjetpresse und beschritt alternative Wege der Vermittlung wie in Engels, Hauptstadt der Wolgadeutschen Autonomen Sowjetrepublik, wo er ausgewählte Werke in einer Fabrik zeigte und der Arbeiterschaft erläuterte.

Als Nagel 1926 nach Berlin zurückkehrte, waren etwa 80 Kunstwerke verkauft, darunter auch Bilder von ihm selbst. Diese Reise wurde wegweisend für Beruf und Karriere des linken Malers und Ausstellungsmachers. Er lernte dabei sowjetische Künstler kennen, die unter Stalin in die Nomenklatura aufsteigen sollten, begegnete Museumsleuten, mit denen neue Ausstellungsprojekte realisiert werden konnten. Auch in persönlicher Hinsicht erfolgte eine Weichenstellung: Volkskommissar Anatoli Lunatscharski, für Bildung und Kultur zuständig, besorgte ihm die Ausfuhrgenehmigung für eine vielversprechende junge sowjetische Schauspielerin – Walentina Nikitina, seither bekannt als Künstlergattin Walli Nagel.

Als Berlin im Mai 1945 von der Roten Armee befreit wurde, erwiesen sich die sowjetischen Verbindungen im persönlichen Netzwerk als vorteilhaft und tragfähig. Die aktive, verdienstvolle Rolle, die Otto Nagel in der Nachkriegszeit beim Aufbau einer demokratischen deutschen Kultur spielte, schließlich auch sein Engagement im Verband bildender Künstler und als Präsident der Akademie der Künste der DDR (1956–1962) werden damit besser verständlich.

Die Künstlerinitiative

Den Ausstellungszirkus unter Nagels Leitung hatte, wie die deutsche Presse erfuhr, die Künstlerhilfe der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) organisiert. Unter dem Dach der IAH, einer 1921 gegründeten NGO unter Leitung des Komintern-Aktivisten Willi Münzenberg, organisierten Berliner Künstler der jüngeren Generation wie George Grosz, John Heartfield und der Regisseur Erwin Piscator, allesamt Mitglieder der Kommunistischen Partei, eigene Spendensammlungen, um Hungerleidenden an der Wolga zu helfen und die Sowjetmacht zu stärken. Otto Nagel gehörte seit 1919 der KPD an und beteiligte sich an der Kampagne. Er organisierte eine Verkaufsausstellung in der Petersburger (heute Danziger) Straße im Stadtbezirk Prenzlauer Berg und gab die Künstlermappe »Hunger« heraus; Käthe Kollwitz und Heinrich Zille unterstützten ihn und steuerten eigene Blätter bei.

Mit der Zusammenstellung der Kunstschau für Moskau und Leningrad begann Nagel im Frühsommer 1924 – zeitgleich zur Gründung der »Roten Gruppe«, des ersten kommunistischen Künstlerbundes in Deutschland unter Leitung von Grosz; Heartfield, Nagel und weitere bis heute bekannte Künstler gehörten dazu, so auch Otto Dix. Im Manifest der linken Aktivisten, veröffentlicht im KPD-Parteiorgan »Die Rote Fahne«, heißt es: »Die Mitglieder dieser Gruppe (…) sind durchdrungen von dem Bewusstsein, daß ein guter Kommunist in erster Linie Kommunist und dann erst Facharbeiter, Künstler usw. ist; dass alle Kenntnis und Fähigkeiten ihm nur Werkzeug sind im Dienste des Klassenkampfes.« Also konzentrierte sich der »rote Kurator« auf politisch linksgerichtete deutsche Künstler (sowie in Deutschland lebende Kollegen, etwa geflüchtete ungarische Revolutionäre) und deren Bündnisse – Neugründungen unter dem Eindruck der Novemberrevolution, des gesellschaftlichen Aufbruchs und der politischen Konflikte in den ersten Jahren der Weimarer Republik.

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Nach Ansicht der Zeitschrift »Das Kunstblatt«, das den künstlerischen Aufbruch förderte, konnte von einer repräsentativen Ausstellung zeitgenössischer Kunst aus Deutschland keine Rede sein. Nagel lege den Fokus auf »sozialpolitisch-publizistisch« engagierte Kunst, unter Vernachlässigung künstlerischer Innovationen seit dem Impressionismus. Viele große Namen fehlten, die in deutschen Museen und Privatsammlungen seit der Kaiserzeit gegen den herrschenden Geschmack durchgesetzt worden waren, auch herausragende Malerei und Skulptur aus jüngster Zeit, wie etwa Bilder von Max Beckmann und Ernst Ludwig Kirchner, die in der 1919 eröffneten Neuen Abteilung der Nationalgalerie im Kronprinzenpalais zu Berlin gezeigt wurden. Dort aber fehlten politische Werke, genauso die sich formierende Architekturmoderne. Erstaunlicherweise gewann Nagel nun auch das Staatliche Bauhaus zu Weimar für seine Ausstellung. Trotz anfänglicher Vorbehalte des Gründungsdirektors Walter Gropius, der wohl eine politische Instrumentalisierung befürchtete, beteiligte sich die innovative Kunstschule; sogar der noch kaum bekannte Mies van der Rohe steuerte Architekturentwürfe bei.

Abstimmung im gemeinsamen Kampf

Otto Nagel und Eric Johansson, ein Genosse aus der »Roten Gruppe«, trafen Mitte September in der Sowjetunion ein, um die Ausstellung aufzubauen. Eröffnet wurde diese am 18. Oktober 1924 in den Räumen des Historischen Museums am Roten Platz in Moskau. Volkskommissar Lunatscharski, der führende Kulturpolitiker des ersten sozialistischen Staates, sprach anerkennend über die Entwicklung deutscher Kunst, die mit Leidenschaft, Zorn und Hoffnung vor allem propagandistisch orientiert sei. Er war im Oktober 1922 zur Vernissage der Ersten Russischen Kunstausstellung in Deutschland nach Berlin gekommen. Jene Präsentation von Meisterwerken aller modernen Richtungen einschließlich der russischen Avantgarde, ausgestellt in den Räumen der privaten Galerie Van Diemen, Unter den Linden, kam seinem Anliegen entgegen, mittels Kunst und Künstlern die Isolation der Bolschewiki und ihres Staates zu überwinden. Die nicht repräsentative, politisch motivierte Gegenschau der Deutschen brachte ihn und die Ausstellungsmacher dagegen in Erklärungsnot.

Das Interesse der russischen Öffentlichkeit an moderner und zeitgenössischer Kunst war groß. Bedeutende Privatsammlungen mit Meisterwerken von Pablo Picasso, Henri Matisse und anderen, vor allem französischen Meistern waren in Sowjetrussland verstaatlicht worden und öffentlich zugänglich. Lunatscharski setzte auf einen Wettstreit der Künste im eigenen Land und förderte durch Ausstellungen, neue Zeitschriften und eine Neuordnung der Museumslandschaft die Debatte. Nagels Kollege Johansson erinnerte 1965 in der DDR an die besondere Atmosphäre: »Niemals, nirgendwo und vielleicht auch nicht wieder sind künstlerische Probleme so leidenschaftlich, freimütig und allseitig diskutiert worden wie in den Klubs und Verbänden der damaligen sowjetischen Künstler.« Der Andrang in Moskau war mit 40 000 Besucherinnen und Besuchern relativ groß. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen indes Darstellungen von Kriegskrüppeln, Opfern kapitalistischer Ausbeutung und Schilderungen des Sittenverfalls. Kritiker nahmen Anstoß am Halbakt einer verkommenen Hure, einem drastischen Gemälde von Otto Dix, das im Ausstellungskatalog noch dazu abgebildet war. Kurator Nagel beteuerte zwar, die Ausstellung diene einer Abstimmung im gemeinsamen Kampf um »Ideale der Arbeiterklasse«. Die Bedenken seiner Gastgeber waren damit freilich nicht ausgeräumt.

»Niemals, nirgendwo und vielleicht auch nicht wieder sind künstlerische Probleme so leidenschaftlich, freimütig und allseitig diskutiert worden wie in den Klubs und Verbänden der damaligen sowjetischen Künstler.«

Eric Johansson Maler

Der Katalog war für Moskau und Leningrad gedruckt, wo die Ausstellung anschließend gezeigt werden sollte. Überraschend verfügte das Volkskommissariat für Bildungswesen, der Narkompros, eine Zwischenstation in Saratow, bei den Wolgadeutschen. Der Besuch im leidgeprüften Notstandsgebiet und die Besichtigung der dortigen Aufbauleistung dürfte Otto Nagel viel bedeutet haben. (In Saratow entstanden kleinere Gemälde und ein paar Zeichnungen, die in der Lokalpresse abgedruckt wurden – die einzigen eigenen Bilder, die der Künstler von dieser Tour und zahlreichen weiteren Reisen in die Sowjetunion mitbrachte.) Die Ausstellung im Radischtschew-Museum lief von Januar bis März 1925. Nagel hatte eigens Abteilungen mit politischer Kunst, Expressionisten, für abstrakten Expressionismus und Konstruktivisten eingerichtet. Seine didaktische Neukonzeption wurde in einem neuen Katalog erläutert, diesmal ohne Illustrationen. Den Umschlag schmückte eine berühmt gewordene Zeichnung, die Kollwitz für die Hungerhilfe geschaffen hatte.

Schließlich Leningrad. Dem Pressespiegel zufolge nahm die kunstinteressierte Öffentlichkeit kaum Notiz. Nur 6000 Schaulustige kamen in die Säle der früheren kaiserlichen Kunstakademie an der Newa. Es hagelte Kritik; auch in künstlerischer Hinsicht, formal-innovativ, wurde die IAH-Präsentation den hohen Erwartungen der sowjetrussischen Kunstszene offenkundig nicht gerecht. Immerhin ließen Besucher den deutschen Ausstellungsführer mit der sympathischen Stimme und großen stahlblauen Augen hochleben, sobald sie seine Bilder entdeckten, so Walli Nagel in ihren Erinnerungen, die 1981 in der DDR erschienen. Otto Nagels Gemälde »Der Jubilar« wurde vom Moskauer Revolutionsmuseum angekauft und war in den Folgejahren auf diversen Ausstellungen in der sowjetischen Hauptstadt zu sehen.

Die Erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung endete im Juni 1925. Otto Nagel kehrte indessen erst 1926 nach Berlin zurück – frisch verheiratet. Beide Geschichten, sein erster Auslandseinsatz als »roter Kurator« und die Begegnung mit der zehn Jahre jüngeren Leningraderin, die ihn in den Wedding begleitete und seinen Aufstieg als Arbeitermaler und Organisator unterstützte, werfen Fragen auf. Münzenbergs Projekte sind kaum erforscht; der Bericht der Künstlerwitwe erscheint lückenhaft und zuweilen abenteuerlich. Moskauer Archivmaterial könnte näheren Aufschluss über Nagels Kooperation mit der sowjetischen Kultusbehörde, der IAH sowie der aus Moskau gesteuerten Komintern geben.

Kollwitz als neues Ideal

Es war George Grosz, der dem Narkompros als Ideal eines politisch engagierten Künstlers vorschwebte. Dessen grotesk-satirische Zeichenkunst in der Tradition Goyas und Daumiers prägte Lunatscharskis Vision von Sozialistischem Realismus. Doch zwischen 1922 und 1932 verschob sich die sowjetische Wertschätzung hin zu Käthe Kollwitz. Die Würdigung der Altmeisterin vom Prenzlauer Berg, deren humanistische Kunst Grosz als pathetischen Kitsch abtat, geht mit der Stalinisierung des Kulturbetriebs und der Durchsetzung eines dogmatisch-heroischen Realismus einher. Otto Nagel und seine sowjetischen Künstlerfreunde spielten hierbei eine Rolle.

Die bedeutende Zeichnerin und Bildhauerin Kollwitz wurde 1919 als erste Frau in die Preußische Akademie der Künste zu Berlin aufgenommen. Sie zeichnete den von der Konterrevolution ermordeten Karl Liebknecht auf dem Totenbett; der von ihr danach geschaffene Holzschnitt wurde zur Ikone der deutschen Linken. Im September 1924 besuchte sie der Künstler Heinrich Vogeler und berichtete von einem längeren Aufenthalt im sozialistischen Osten. »Vogeler sagte, er war in Deutschland so müd und hoffnungslos geworden, in Russland hat das Leben ihn wieder gepackt«, notierte sie. Die aus Königsberg (heutzutage Kaliningrad) in Ostpreußen stammende Künstlerin sympathisierte mit der Sowjetmacht. In einem Silvestergruß an Otto Nagel in Moskau bekennt sie: »Ich möchte doch sehr gern einmal nach Russland gehen. Genau wie Vogeler sprechen Sie von der Natürlichkeit und dem Frohsinn der Menschen dort. Wie schön muss das sein.«

Die Gelegenheit ergab sich mit einer offiziellen Einladung zur Feier des zehnten Jahrestages der Revolution und des fünften Geburtstags der Sowjetunion. Der sowjetische Botschafter Krestinski suchte Käthe Kollwitz auf, außerdem waren drei Vertreter der Assoziation der Künstler des revolutionären Russlands (AChRR) bei ihr vorstellig geworden. Diese Organisation, ein Sammelbecken der Akademisten, Traditionalisten und Antimodernisten, schickte sich an, die sowjetische Kunstpolitik der nächsten Jahrzehnte zu dominieren. Im Herbst 1927 gehörte das Ehepaar Kollwitz zur über 100-köpfigen deutschen Delegation. Die Reisegesellschaft bestand aus Mitgliedern der »Gesellschaft der Freunde des Neuen Russland«, einer Berliner Vereinigung, die den grenzüberschreitenden Austausch zwischen Wissenschaftlern und Kulturschaffenden förderte; deren Veranstaltungen fanden übrigens im Preußischen Herrenhaus statt.

Mit dabei war auch das Ehepaar Nagel. Vermutlich war Otto Nagel beauftragt, die erste Personalausstellung von Käthe Kollwitz in Moskau einzurichten. Ganz genau wissen wir es nicht. Mit dem systemisch bedingten Desinteresse an DDR-Kunst seit der Wiedervereinigung und ohne Neugier auf »proletarisch-revolutionäre Kunst«, die im Osten als nationales Erbe galt, fiel leider auch die Forschung zum Werk und Wirken Nagels ins Provinzielle zurück. Gut dokumentiert dagegen ist die Kollwitz-Retrospektive von 1932. Mit 142 Werken war es die größte sowjetische Schau zu Lebzeiten der Künstlerin, die selbst nicht mehr anreiste. Auf ihren Wunsch übernahm der »rote Kurator« die Hängung und eröffnete die Ausstellung in Moskau und Leningrad. Zur Eröffnung lag ein Katalog mit Vorwort Nagels vor. Auf einer Diskussion pries er die ausgestellte als vorbildliche politische Künstlerin, die in ihren Blättern Not und Leidenschaft, Kampf und Streben der arbeitenden Klasse bezeuge. Ausdrücklich erwähnt wurde die neugeschaffene Lithografie »Wir schützen die Sowjetunion« mit kyrillischem Untertitel in der Handschrift von Kollwitz.

DDR-Briefmarke zu Ehren Otto Nagels
DDR-Briefmarke zu Ehren Otto Nagels

Ausstellung und Widmung bezeugten wahren Internationalismus, während vor Ort Kunst aus dem Westen immer lauter kritisiert wurde, nur kapitalistische Verhältnisse anklagen, jedoch nichts zum Aufbau des Sozialismus im heroischen Zeitalter der Fünfjahrpläne beitragen zu können. Nagel bewies das Gegenteil, indem er bis 1933 mit Boris Ternowez, Direktor des Museums für neue Kunst des Westens (GMNZI), Personalausstellungen deutscher Kollegen und Themenschauen revolutionärer Kunst der Gegenwart organisierte, die das Moskauer Kunstleben bereicherten. Mit Gründung der Association revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands (ASSO), die 1928 der »Roten Gruppe« nachfolgte und die KPD propagandistisch unterstützte, war der vermeintliche Schulterschluss mit sowjetischen Genossen auch organisatorisch hergestellt: die ASSO, der Otto Nagel angehörte, war eine Bruderorganisation der AChRR.

Von Moskau gelangte die Kollwitz-Ausstellung nach Leningrad. Private Aufnahmen zeigen die Nagels beim Einrichten und neben Künstlerfreunden, darunter der Malerfürst Isaak Brodski. Lieblingsschüler Ilja Repins und selbst begabter Porträtist, hatte er die Führer der Kommunistischen Internationale gezeichnet und gemalt. Nach Skizzen, die 1921 im Kreml entstanden waren, schuf er 1930 das berühmte Gemälde »Lenin im Smolnyj« – sein wohl bekanntester Beitrag zum Kult um den verstorbenen Staatsgründer. Dieser Lordsiegelbewahrer des russischen Akademismus gehörte der AChRR an.

Im Folgejahr, schon nach Errichtung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, die Otto Nagel zu spüren bekam, war es die famose Walli, die auf Bitten der Kollwitz deren unverkaufte Arbeiten aus der Sowjetunion abholte. Diese Episode ihrer Erinnerungen nimmt es locker mit »Tim und Struppi im Lande der Sowjets« auf. Nun geht es im Flugzeug hin und her, inklusive Looping. Sie brachte das Konvolut nach Amsterdam, wo eine Ausstellung mit Werken von Kollwitz, Heinrich Zille und Otto Nagel gezeigt werden konnte. Eine geschulte Agentin hätte es nicht besser machen können als Künstlergattin Walli Nagel.

Lenins Totenmaske

An die gemeinsame Russlandreise 1932 erinnert ein ungewöhnliches Souvenir. Viele Besucher kamen in die Atelierwohnung am Gesundbrunnen, um dieses Ding zu bestaunen: Lenins Totenmaske. Der Bildhauer Georg Kolbe hielt sie für die beste Arbeit dieses Genres. Es handelt sich um eine vollplastische, szenische Darstellung: wiedergegeben ist der auf dem Sterbebett ruhende, zur Seite geneigte Kopf. Es scheint, als hätte Lenin gerade seinen letzten Atemzug getan. Weiter unten sind Sterbeort und -datum sowie der Name des Künstlers eingraviert: »Gorki 22. Januar 1924 4 Uhr nachts S. Merkurov«.

Sergej Merkurow war auf den Landsitz bei Moskau gerufen worden, als der erst 53-Jährige, schwerkranke Revolutionsführer und Politiker verstarb. Der junge Bildhauer hatte auf der Bahnstation Astapowo die Totenmaske Lev Tolstoi abgenommen. Er würde viele Totenantlitze anfertigen, von den Dichtern Jessenin und Majakowski ebenso wie von Politikern. Merkurow schuf Monumente russischer Dichter und sowjetischer Diktatoren. Auf Fernwirkung angelegt und zum Symbol Moskaus und der Sowjetunion auserkoren war seine Lenin-Figur für den geplanten Palast der Sowjets, die 1933 ins Gespräch kam: 80 Meter hoch, damit doppelt so hoch wie die New Yorker Freiheitsstatue.

Die Ehepaare Merkurow und Nagel waren befreundet. Der Monumentalist hatte in München studiert; er sprach Deutsch, was den persönlichen Austausch erleichterte. Sein Geschenk an die Berliner versah er mit einer Zueignung: »An Otto Nagel und Wally freundlich gewidmet S. Merkuroff 12. Mai 1932 Moskau«. Auch dies war ein Verbrüderungsgeschenk wie jenes von Kollwitz: Merkurow zählte zur Künstlergruppe des revolutionären Russlands. Diese führte den neuen Berufsverband an und bekam lukrative Aufträge. Die Zentralisierung war gerade erfolgt, als die Kollwitz-Ausstellung eröffnete: im Ausstellungssaal der 1931 gegründeten, unionsweit einzigen Künstlerorganisation.

Als Nazischläger die Atelierwohnung verwüsteten, blieb das wertvolle Andenken unentdeckt, weil Walli geistesgegenwärtig ihre Kittelschürze abband und darüber warf. Das Kultobjekt wurde in einem Keller versteckt und überstand dort unbeschadet den Krieg. Nach der Befreiung brachten die Nagels den Kopf, vermittelt wohl durch einen Leningrader Bekannten, Kulturoffizier Alexander Dymschitz, zur Sowjetischen Militärverwaltung in Karlshorst und tauschten ihn – ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnten – gegen ein Spanferkel ein.

Märchenhaft waren auch die nächsten Wendungen. Die Totenmaske kehrte 1948 nach Moskau zurück, wo der erste Abguss in den Kriegswirren verlorengegangen war. Als Walli später erfuhr, im Leninmuseum sei nun der Gips aus dem Besitz der Lenin-Witwe ausgestellt, bemühte sie sich um Rückgabe – mit Erfolg. Otto Nagel hatte seine Tätigkeit als Kulturfunktionär gerade beendet, als er im Januar 1963 ans Rednerpult des VI. Parteitags der SED trat. In Anwesenheit des sowjetischen Staats- und Parteichefs Nikita Chruschtschow übergab er die symbolträchtige Totenmaske der Regierung seiner Republik. Das wertvolle Objekt gelangte ins Museum für Deutsche Geschichte, ins Zeughaus. Dort liegt es heute noch, wohlbehalten und wenig beachtet.

Christian Hufen ist Kunsthistoriker und Publizist. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ausstellungen »1922 – George Grosz reist nach Sowjetrussland« und »Was sind das für Zeiten? Grosz, Brecht und Piscator« in Berlin (Das kleine Grosz Museum, 2022 beziehungsweise 2024).

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