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Aufrüstung: Die Rückkehr des Sicherheitsdilemmas
Im Forschungsbereich Internationale Beziehungen dominiert wieder die grausame Welt des Neorealismus
Und wenn sich alle Chinesen mit Taschenmessern bewaffnen und uns überfallen?» Mit dieser Frage wurde der Autor dieser Zeilen konfrontiert, als er Anfang der 1980er Jahre zur «Gewissensprüfung» im Kreiswehrersatzamt einer fränkischen Stadt antreten musste. Der Prüfer – ein Reserveoffizier mit Verletzung aus Stalingrad, für den Entmilitarisierung eine Horrorvorstellung war – war sich wohl nicht bewusst, dass er damit eine Grundsatzproblematik streifte, die Generationen von Politikwissenschaftlern bis heute in Atem hält. Genauer gesagt geht es um die Forschungssparte der Internationalen Beziehungen, in der während der Phase des «Gleichgewichts des Schreckens» die Schule des Neorealismus dominierte – seit der «Zeitenwende» rückt sie wieder in den Vordergrund.
Gefangen im Kalkül
Die Neorealisten waren in den 1970ern mit spieltheoretischen Ansätzen angerückt. Insbesondere das aus Soziologie, Ökonomie und Verhaltensforschung bekannte Gefangenendilemma ließ die Köpfe rauchen: Zwei Personen, die beschuldigt werden, gemeinsam eine Straftat begangen zu haben, werden getrennt vernommen. Gemäß der Spielanordnung wäre zwar Kooperation, also gegenseitiges Decken oder Aussageverweigern, am besten. Da man sich aber gegenseitig misstraut, wird Spieler 1 den anderen belasten – in der Hoffnung, durch die Kronzeugenregelung straffrei auszugehen. Wenn Spieler 2 den gleichen Weg geht, stehen am Ende beide schlecht da.
Der Neorealismus wendet diese Anordnung auf die internationale Politik an – mit dem Sicherheitsdilemma: Objektiv wäre es am besten, wenn Länder auf Kooperation und Frieden setzen. Da aber Misstrauen herrscht, entscheiden sie anders. «Selbst zwei defensiv orientierte Mächte, die militärische Vorsorge für ihre Sicherheit treffen, können in eine am Ende nicht mehr kontrollierbare Eskalationsspirale geraten. Hinzu kommt, dass sich Staaten oft nicht sicher sind, ob sie sich in einem reinen Sicherheits- oder doch in einem realen Machtkonflikt befinden», erläutert der Politologe Gert Krell von der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Was den Neorealismus so erfolgreich macht: Er liefert schlichte Erklärungsmuster.
Grundlage des Neorealismus ist ein tristes Menschenbild: Ähnlich dem liberalen Homo oeconomicus geht es hier allein um die Kalkulation des zu erwartenden Nutzens. Handelnder Akteur sind allerdings die Staaten. Da wegen des Fehlens einer Weltregierung in den internationalen Beziehungen Anarchie herrsche, diene Außenpolitik allein dem Ziel, die permanente Unsicherheit zu reduzieren. «Jeder Staat verfolgt seine eigenen Interessen, wie auch immer sie definiert sind, auf die Weise, die er für die beste hält. Gewalt ist ein Mittel, um die externen Ziele von Staaten zu erreichen, weil es kein einheitliches, zuverlässiges Verfahren gibt, um die Interessenkonflikte auszugleichen», wie es Kenneth Waltz, Mitbegründer des Neorealismus und Professor an der Columbia University in New York, ausdrückte. Friedliche Phasen und Kooperation sind hier genauso möglich wie Konflikte und Kriege.
Waltz vertrat die Ansicht, dass das stabilste Arrangement die Bipolarität sei, also ein Gleichgewicht zwischen zwei Großmächten. Aus dieser Sicht wurde gerade die Aufrüstung in den 1980er Jahren zum Friedensgarant. Was den Neorealismus also so erfolgreich machte: Er liefert schlichte Erklärungsmuster für außenpolitische Entwicklungen. Gleichzeitig bietet er Handlungsempfehlungen für Außenpolitiker und kann der Rechtfertigung dienen.
Vielfalt nach der Blockkonfrontation
Die Debatte um den Neorealismus beherrschte das Feld der Internationalen Beziehungen bis in die 1990er Jahre hinein. Erst mit dem Ende der Blockkonfronatation ging es vielfältiger zu: An Bedeutung gewann der Institutionalismus, der davon ausgeht, dass Staaten zur Kooperation bereit sind, um ihre Ziele zu erreichen. Das Sicherheitsdilemma ließe sich demnach einhegen durch internationale Institutionen wie Uno und OSZE, durch Rüstungskontrollvereinbarungen, durch Regeln und Normen. Eine Strömung propagierte die wirtschaftliche Globaliserung, die für wechselseitige Abhängigkeiten sorge, was Kriege zurückdränge. Mit der Krise der Globalisierung kamen die Anhänger in Erklärungsnot.
Mehr Gehör fand auch der vor dem Zweiten Weltkrieg bedeutende Idealismus. Auf Kant zurückgehend, sei der Mensch demnach von Natur aus vernunftbegabt und strebe nach Frieden. Mit zunehmender Demokratisierung wäre auch innerhalb einer Weltgemeinschaft Frieden möglich. Ferner gewannen zahlreiche linke Ansätze an Bedeutung: Poststrukturalismus, Feminismus, Dependeztheorie, Neogramscianismus oder diverse Lesarten der Politischen Ökonomie.
Quer zu den theoretischen Strömungen arbeitete die Friedens- und Konfliktforschung. Hervorgegangen aus der Friedensbewegung, steht hier die praktische Frage im Mittelpunkt, wie Konflikte beendet und Friedensordnungen hergestellt werden können. Sie kehrte sich ab vom auf Nordamerika und Europa verengten Blick der Neorealisten, bei denen sich alles um Staaten und bedrohte Sicherheit dreht: Die Friedensforschung lenkte den Blick auf die Bedeutung einer starken Zivilgesellschaft, aber auch auf die vielen Kriege im globalen Süden. Und auf die «strukturelle Gewalt» (Johan Galtung) durch wirtschaftliche Ausbeutung, soziale Ungerechtigkeit und innergesellschaftliche Konflikte. Zudem wurde Frieden zunehmend durch globale Armut und die Folgen des Klimawandels als bedroht angesehen.
Comeback der Machtpolitik
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine brachte indes die Friedensforschung und andere Strömungen in die Bredouille. Ihnen wurde vorgehalten, dass sie den Krieg nicht prognostiziert hätten und die verschärfte außenpolitische Konfrontation auch nicht erklären könnten. Dies nutzten die Neorealisten, die schnell mit Erklärungen bei der Hand waren: John J. Mearsheimer von der Universität Chicago sagte in einem Interview, dass die Nato-Osterweiterung Russland provoziert und Putin gezwungen habe, einen «präventiven Krieg» zu führen, um eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern.
Anders als der 2013 verstorbene Vordenker Waltz bekennt sich Mearsheimer zum «offensiven» Neorealismus, wonach Großmächte zur Machtmaximierung gezwungen würden und Macht Recht setze. «In der anarchischen Welt der internationalen Politik», schrieb er lange vor dem Ukraine-Krieg, «ist es besser, Godzilla zu sein als Bambi». Wenig überraschend befürwort er die Politik Trumps, ein Abkommen mit Russland zu Ungunsten der Ukraine auszuhandeln.
Ein Erfolgsgeheimnis des von konservativen Think-Tanks unterstützen Neorealismus ist, dass er in jedewede Richtung gehen kann – man muss nur die Perspektive wechseln. In Deutschland ist der Neorealist Carlo Masala nicht nur regelmäßiger TV-Gast, sondern auch wichtiger Stichwortgeber bei den aktuellen Aufrüstungsplänen. Der Professor an der Bundeswehr-Universität München warnt mit Blick auf die neue US-Politik vor der «Rückabwicklung der europäischen Sicherheitsordnung». Er plädiert für eine breite Koaliton westeuropäischer Staaten zum Aufbau von Fähigkeiten zur Abschreckung und Verteidigung und hofft, dass der «Selbstbehauptungswille Europas erwacht».
Es herrscht Ratlosigkeit
Fachlich betrachtet, ist nicht die jeweilige politische Position der Neorealisten das Problem, sondern die grundsätzliche Sichtweise: Reduziert man die internationale Politik auf den Staat als handelnde Kategorie, der angeblich objektive nationale Interessen vertritt, wird Außenpolitik der demokratischen Debatte entzogen. Das Sicherheitsdilemma wird zum Paradigma erklärt.
Auch aus dem universitären Mainstream gibt es Gegenstimmen: Von einem «deterministischen Nationaldarwinimus mit einer großen Portion mechanistischer Geographie- und Geschichtsauffassung» spricht Robert Schütt, Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Er kritisiert in einem Gastbeitrag für den «Standard» die «eng definierten Bahnen von Reiz und Reaktion, Kraft und Gegenkraft, Freund und Feind». Dani Rodrik, ein türkischer Harvard-Ökonom, fordert die «Zähmung» des Sicherheitsdilemmas: «Es gibt jede Menge Spielraum, um der grausamen Welt der sogenannten Realisten zu entkommen.»
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Vor allem aber herrscht Ratlosigkeit: «Die politischen Projekte globalen Regierens der 1990er und 2000er Jahre – Stärkung und Ausbau multilateraler Institutionen, Förderung von Demokratisierung, extern unterstützte Friedensförderung – sind in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten zum Erliegen gekommen oder gescheitert», heißt es im Friedensgutachten verschiedener Institute für 2024. «Zukunftsweisende Ideen für die politische Gestaltung einer neuen globalen Ära sind rar.»
Lässt man aber die Realpolitik links liegen, gilt noch immer, was der wohl einflussreichste deutsche Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel 1998 schrieb: «Je mehr die Staaten kooperieren, desto stärker wächst das Vertrauen zwischen ihnen, desto geringer wird der Zwang zur Aufrüstung, desto marginaler das Sicherheitsdilemma. Nicht die Abschreckung der ›balance of power‹ erzeugt Sicherheit, sondern die Zusammenarbeit in einer internationalen Organisation.»
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