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Woher kommt der Terror?
14 Überlegungen, wann und warum jemand als wahnsinnig gilt
1. Es macht keinen Sinn, einen Text über Wahnsinn zu schreiben und dabei in der Form des Essays zu bleiben, der aus weise zusammengesuchten Beispielen und klugen Gedanken eine Zusammenschau des Phänomens ergibt. Die Frage ist auch nicht, was Wahnsinn ist, sondern was er bedeutet.
2. Unter diesen Voraussetzungen wäre zu klären, nicht nur: Wer, wann, warum eigentlich als wahnsinnig gilt? Sondern auch: wann diese Kategorisierung nicht nur von der Fachwelt, sondern gerade von der Gesellschaft abgesegnet wird. Dass Attentäter wie jener in Magdeburg wahnsinnig sind, darauf können alle sich verständigen; je nach ideologischer Blickrichtung fordern sie dann mehr Hilfe für psychisch Erkrankte oder mehr polizeiliche Überwachung – so wie es Carsten Linnemann tat, der ein Register für psychisch Erkrankte andachte in der Hoffnung, man möge ihm glauben, dass dieses Register künftige Gewalttaten verhindern wird. (Was natürlich Quatsch ist.)
3. Das sind die Vorzeichen, unter denen die Flut an Pseudodiagnosen in den Headlines ihren wahren Sinn enthüllen: Es geht nicht um Erklärungen, warum dieser oder jener eine Tat des Wahnsinns beging, einen Selbstmordanschlag etwa. Es geht darum, dem Unerklärlichen eine Kategorie zuzuweisen, die einzig und allein im Täter selbst liegt; seine verdrehte Psyche, sein abnormes Wesen. Der Mechanismus greift bei jedem Anschlag, der größere Aufmerksamkeit erfährt, sei es Hanau (»Faz«: »Wahnhafte Weltsicht«), Halle/Saale (»Spiegel«: »Die irre Gedankenwelt des Stephen Balliet«) oder Magdeburg (»Faz«: »Warum wir über psychisch kranke Gewalttäter sprechen müssen«). Als Erfüllungsgehilfen dieser Pathologisierung stehen jene psychiatrisch ausgerichteten Extremismusforscher*innen, die in länglichen Interviews immer wieder von Täterprofilen erzählen und Karikaturen des Wahns präsentieren. Die Funktion dieser Erklärung ist eine diskursive Isolation. Darauf verweist auch das ständige Gerede vom »Einzeltäter«, ein Terminus, der immer von der Tat wegdenkt und sie aus den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen herauslöst.
4. Die Beschämung der psychischen Erkrankung insgesamt ist die Folge: jenseits der Frage nach diesem oder jenem Attentäter, ist klar, dass psychisch erkrankte Menschen weit häufiger Opfer von Gewalt werden als sogenannte Normale. Das betrifft sowohl ihre alltägliche Lage als auch die Ausnahmesituationen. 2024 sind 22 Menschen durch Polizeischüsse getötet worden, so viele wie seit 25 Jahren nicht mehr. In der Mehrzahl der Fälle befanden sich die Opfer in psychischen Ausnahmesituationen. Im Dezember 2024 wurden jene Polizisten freigesprochen, die die tödlichen Schüsse auf den 16-jährigen Mouhamed Lamie Dramé zu verantworten haben. Sein Verbrechen war, in einem Zustand der Apathie mit Selbstmord zu drohen. Um ihn davon abzuhalten, erschoss ihn ein Einsatzkommando.
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5. Die Erklärungen der Fachleute, die ein Attentat aus einer intrinsischen Motivation erklären wollen, sind so vorhersehbar wie selbstherrlich. Britta Bannenberg, Professorin an der Universität Gießen, meint: »Die Persönlichkeit dieser Menschen zeigt narzisstische und paranoide Züge, die Täter sind extrem kränkbar, fühlen sich persönlich permanent gedemütigt und missachtet, obwohl dies objektiv gar nicht der Fall ist.«
6. Es gibt für fast alle Menschen Gründe, sich »permanent gedemütigt und missachtet« zu fühlen. Die Zumutungen der Wirklichkeit sind kein Ammenmärchen, sondern eine ständige Herausforderung. In »Flüche einer Verfluchten« schreibt Gisela Elsner: »Unsere Widerstandskraft hat nämlich allen unüberbietbar widerwärtigen Widerwärtigkeiten des jeglicher Beschreibung Spottenden zum Trotz noch keineswegs die Waffen gestreckt.«
7. Die Geschichte der Psychopathologie ist ein Teil des Klassenkampfes von oben: einer der wichtigsten Marker dafür, verrückt gehalten zu werden, ist relative Armut. Für diese Zusammenhänge aber gibt es keinen gesellschaftlichen Blick, weil die Gegenwart in dieser Frage eine Arbeitsteilung aufrechterhält: Der Staat kümmert sich um die Irren, die Gesellschaft kritisiert ihn nur, wenn ihm das nicht gelingt.
8. Dadurch fällt die Verantwortung der Allgemeinheit für das Wohl aller weg. Ein Drittel der Bevölkerung ist laut Psycho-Modul des Deutschen Gesundheitssurveys psychisch erkrankt. Einer der Autoren, Frank Jacobi, gab sich »vor der Presse gelassen: Psychische Gesundheitsstörungen gehörten zum normalen Leben« (»Deutsches Ärzteblatt«).
9. Was das normale Leben ist in Zeiten, in denen Trump und Putin regieren, darauf gibt es keine schlüssige Antwort; auch nicht auf die Frage, wie es eigentlich soweit kommen konnte, dass gerade in den USA es diese Art des Irrsinns bis ins Präsidentschaftsamt geschafft haben kann. Wer den Irrsinn nicht als abnorm betrachtet, sondern als Verlängerung einer gesamtgesellschaftlichen Logik, wird ohne Weiteres fündig.
10. Um nicht als Stichwortgeber für terroristische Attentäter zu gelten, müssen aber nicht nur rechtsextreme Parteien und Akteure ihn im Nachhinein isolieren, sondern auch jene sogenannte bürgerliche Mitte, die gerade beim Thema Migration rechtsextreme Erzählmuster aufgenommen und weitergesponnen hat. Ziel ist nicht mehr die Einhaltung der Menschenrechte, sondern inwiefern ein Partikularinteresse einer bestimmten Gemeinschaft gegen eine als unaufhaltsam wahrgenommene Radikalisierung zu verteidigen sei. Radikal ist in dieser Logik immer krank.
11. Und an diesem Punkt bricht die Erzählung, weil sie Terror vereinzeln muss und ihn nicht einbetten kann in eine globale Realität. Die Regelmäßigkeit, mit der inzwischen terroristische Anschläge verarbeitet werden müssen, führt nur zu einer größeren Alienisierung, die glaubt, dass es nicht notwendig ist, zu verstehen, wie und warum diese Taten der Gesellschaft, die sie trifft, selbst entspringen. Es muss etwas anderes sein, es muss geisteskrank sein. An uns kann es nicht liegen.
12. Der Kampf gegen den sogenannten Wahn ist der Kampf für eine Ordnung, die diesen Wahn überhaupt erst hervorbringt. Deswegen wird so getan, als wäre der Wahn etwas anderes, Fremdes, etwas gegen den natürlichen Menschenverstand Verstoßendes: Das aber ist gegen jede Logik.
13. Diagnosen verlieren ihren Sinn, wenn sie Urteile werden. Sie snd hilfreich, wenn sie Wege in jene Hilfesysteme eröffnen, die die Diagnostizierten aus ihrer Vereinzelung herausholen. Das – und nur das – muss die Funktion von Diagnosen in einer aufgeklärten, menschenfreundlichen Welt sein.
14. Die Anrufung des Wahns als das Andere, Gefährliche ist aber selbst gefährlich; diese Anrufung bringt die Rache an dieser sich als offen gebenden Gesellschaft erst hervor.
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