- Kultur
- Talke talks
Un-Intellelo
Die Hausaufgaben meiner Tochter treiben mich in den Wahnsinn.
Howdy aus Texas, liebe Leserschaft,
haben Sie in der ersten Klasse Äsop gelesen, Eigenschaftswörter gepaukt und zwischen verschiedenen Maßeinheiten hin- und hergeswitcht? Ich auch nicht, aber von meiner Tochter wird’s erwartet! Ihre wöchentlichen Hausaufgaben, die angeblich ganz freiwillig sind, aber von allen brav abgegeben werden, treiben mich in den Wahnsinn. Da soll man Adverbien in langen Sätzen markieren, multiplizieren und gar das literarische Genre von Büchern benennen (ohne dass zuvor bestimmt worden wäre, was genau mit Genre gemeint ist ̶ geht es hier um Sachbücher vs. Belletristik, Kinder- vs. Erwachsenenliteratur, Prosa vs. Lyrik?). Und nein, das ist keine gruselige chinesische Akademie, die zukünftige Imperialisten ausbildet, das sind die Erwartungen einer stinknormalen staatlichen Grundschule in Texas.
Meine Tochter kann diese Aufgaben ohne elterliche Hilfe nicht lösen. Genauso wenig wie der Großteil ihrer Klassenkameraden. Als ich die Lehrerin auf dieses zu hohe Niveau anspreche, gibt sie sich verwundert: Nichts in den Hausaufgaben sei neu, versichert sie mir, die Kinder sollten in der Lage sein, sie selbstständig zu bearbeiten. Wie kann man erwarten, dass Sechs- und Siebenjährige multiplizieren, wenn sie nicht mal richtig addieren können? Wie sollen sie Adjektive von Adverbien unterscheiden, wenn sie kaum einen Satz richtig hinschreiben können, geschweige denn, die Moral von Äsops Fabel analysieren? Am verwirrendsten ist eine Matheaufgabe, in der drei geometrischen Figuren jeweils eine andere Maßeinheit zugewiesen ist: Inches, Feet und Zentimeter! Ich, die sich seit neun Jahren darüber aufregt, dass die Amis sich und mich mit ihren unlogischen Maßeinheiten quälen, statt endlich unser verdammtes metrisches System zu übernehmen, frage mich, wie das sein kann, dass Texas mehr von Erstklässlern erwartet als von studierten Erwachsenen.
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
Denn seien wir mal ehrlich, die Menschen um uns rum sind nicht gerade mit viel Allgemeinwissen gesegnet. Den Golf (ehemals von Mexiko, neuerdings von Amerika) bezeichnen sie als Ozean, den Gefrierpunkt von Wasser kennen sie nicht (32 ist auch schwerer zu merken als 0) und sie benutzen Adjektive statt Adverbien, wenn sie dir ein »Drive safe« reindrücken. Eine Bekannte mit Masterabschluss und 35 Jahren auf dem Buckel hatte erst nach ihrer Indienreise die Erleuchtung, dass das Land einst von den Briten kolonialisiert worden war. Eine andere, Publizistin und über 40, behauptete, Josef Stalin sei Hauptakteur des Ersten Weltkriegs gewesen. Andere Bekannte wussten nicht, dass es vor den USA woanders schon Demokratien gegeben hat. Ihre Unwissenheit hindert diese Menschen nicht daran, erfolgreich in ihren Jobs zu sein, nicht mal in Jobs, in denen Wissen ganz angebracht wäre. So sagte doch letztens die Kuratorin einer Surrealismusausstellung: André Breton, der Vater des Surrealismus, sei ein »weirder Typ«, über den sie nicht reden wolle.
Überhaupt scheint es, als sei Intellektualität gerade richtig out. Vielleicht ist das eine weltweite Problematik, doch irgendwie tut sie hierzulande besonders weh. Anstatt mehr Philosophen, Wissenschaftler oder Kritiker zu Wort kommen zu lassen, richtet die US-Gesellschaft ihren moralischen Kompass vorrangig nach Comedians, Models und Reality-TV-Stars aus. Und wenn mal ganz selten jemand Kluges was zu melden hat, muss der Inhalt dermaßen »dumbed down«, also runtergedummt werden, dass nichts Sinnvolles übrigbleibt. So zum Beispiel die pseudo-intellektuelle Sendung »Pretend it’s a city« mit der renommierten Literaturkritikerin Fran Lebowitz, gedreht von Martin Scorsese. Darin wird nicht über Literatur gesprochen (vielleicht wüssten die Erstklässler unter den Zuschauern gern, wie Fran literarische Genres definiert?), sondern sich übers Älterwerden und Geldprobleme beschwert. Haben diese zwei Gründe Scorsese, den geniale Regisseur, dazu bewegt, mit seiner jüngsten Tochter tumbe Make-up-Tutorials für Tiktok zu drehen?
Die Zeitschrift »The Atlantic« berichtete unlängst, dass Studenten von Eliteunis keine ganzen Bücher mehr lesen würden: »Middle and High Schools stopped asking them to«, heißt es. Vielleicht hört Intellektualität nach der Grundschule einfach auf. Genervt streiche ich einen Fehler in der Hausaufgabe meiner Tochter an, ein fehlender Apostroph in der Aufgabenstellung.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.