Erst kommt die Macht, dann das Geld

Der italienische Mafiajäger Roberto Saviano stellt in Berlin sein neues Buch vor

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 5 Min.
Stets in Gefahr: Mafiajäger Roberto Saviano
Stets in Gefahr: Mafiajäger Roberto Saviano

Auf der Luckenwalder Straße, am Kreuzberger Gleisdreieck in Berlin, wacht Polizei vor der Tür des ehemaligen Kühlhauses. »Li-Be für die Stadt« steht auf dem Aufsteller, ein weiterer Ausweichort für das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße, das dort schon seit Jahren restauriert wird. Roberto Saviano ist in Berlin. Am vergangenen Freitag stellt der italienische Mafiajäger sein neues Buch vor. Taschenkontrollen finden nicht statt.

Roberto Saviano ist 45 Jahre alt. Vor knapp 20 Jahren, 2006, veröffentlichte er sein Buch »Gomorrha« (2007 auf Deutsch), da war er Ende 20. Er hatte sein Lebensthema gefunden. In seinem Debüt entlarvte er die kriminellen Clans der Camorra in Neapel, die Praktiken des organisierten Verbrechens, die Vernetzung mit legalen Wirtschaftsstrukturen und mit der Politik. Das Buch wurde in 50 Sprachen übersetzt, verkaufte sich weltweit millionenfach, wurde verfilmt.

Seitdem steht Saviano unter Personenschutz. Es gab mehrere Morddrohungen gegen ihn. Ein Kronzeuge bestätigte konkrete Pläne, Saviano in seinem Auto per Fernzündung in die Luft zu sprengen. Ein normales Leben in der Öffentlichkeit ist ihm nicht mehr möglich. Fluglinien weigern sich, ihn zu befördern, Hotels und Restaurants lassen vor seinem Besuch erst ihre Räume auf Bomben hin durchsuchen. Saviano erfuhr jedoch auch viele öffentliche Solidaritätsbekundungen, nicht nur national, sondern auch international. 2008 forderten sechs Nobelpreisträger – Günter Grass, Dario Fo, Michail Gorbatschow, Orhan Pamuk, Rita Levi-Montalcini und Desmond Tutu – in einem öffentlichen Appell in der einflussreichen Zeitung »La Repubblica« den italienischen Staat auf, Saviano besser zu beschützen. Unter der gegenwärtigen Regierung der Postfaschistin Giorgia Meloni wird der Schriftsteller mit Prozessen überzogen, in seiner Heimat hat er Auftrittsverbot. Er führt ein Leben im Untergrund, in wechselnden Verstecken, tagtäglich an Leib und Leben gefährdet.

In Berlin wird er wie ein Superstar begrüßt. Lässig lächelnd winkt er zum Auftakt in sein Publikum. Die italienische Gemeinde ist vielzählig erschienen, rund 200 Interessierte. Mehr als ein Dutzend Bücher hat der 1979 in Neapel geborene Sohn eines katholischen Arztes, der einen verletzten Mafioso unter Zwang (Prügel) versorgen musste, und einer jüdischen Lehrerin mittlerweile über die Italien nach wie vor im Würgegriff haltenden kriminellen Organisationen, deren Strukturen und Personal veröffentlicht; das neueste widmet sich erstmals der Rolle von Frauen in der Mafia. Der Titel: »Treue. Liebe, Begehren und Verrat«.

»Treue«? Die gilt allein der Organisation, niemand anderem. »Liebe«? Darf in der Mafia nicht vorkommen. Denn Liebe ist vergänglich. Die Organisation aber muss erhalten bleiben, sie steht über allem. Die Mittel zum Zweck sind Blutsverwandtschaft, Rache, Erpressung, Gewalt, Mord. Zweckbündnisse stärken den Zusammenhalt; alles, was diesen bedroht, wird beseitigt. Ehen sind dazu da, den Fortbestand zu sichern, Kinder zu produzieren, das Eigentum zu behüten, den Alltag zu organisieren. »Es sind Strukturen wie in Adelsfamilien im 18./19. Jahrhundert«, sagt Saviano.

Und Macht als Selbstzweck. »Geld ist nicht das Wichtigste«, so der studierte Philosoph, »sondern Macht. Erst kommt die Macht, dann das Geld.« Einer, der Macht hat, kann sich nehmen, was er will. »Ich finde es furchtbar, dass er mich nicht betrogen hat«, gibt eine der Frauen in diesem Buch zur Auskunft, denn: Betrügen sei ein Zeichen der Macht. Der Mann, der viele Frauen begehrt und seine angeheiratete betrügt, ist mächtiger als andere. So die Moral. Es ist ein reiner Männerkodex. Und die Frauen unterwerfen sich den brutalen Regeln. Auch sie werden zu Tätern, ähnlich brutal wie Männer, ähnlich gnaden- und skrupellos, manchmal schlimmer noch, wenn sie meinen, die Organisation verlange dies.

Um die Mafia zu bekämpfen, muss der Kapitalismus bekämpft werden.

Fröhlich und sehr konzentriert wirkt Saviano an diesem kühlen Ort im ehemaligen Kühlhaus. Eindringlich und mit Bühnenerfahrung erzählt er, lebhaft und dramatisch, gelassen und zugewandt. Fragen sind allerdings nicht zugelassen. Am Ende fasst Saviano die »Philosophie der Mafia« zusammen. Er überhöhe die Mafia nicht, betont er, und er romantisiere sie auch nicht. »Die Mafia ist hässlich. Die Mafia ist grausam.« Die Mafia sei »uns« stets voraus, sagt er. Und: Sie verdeutliche die Funktionsmechanismen des Kapitalismus. Macht wird erobert und gesichert, das eroberte Terrain kontrolliert und verteidigt; es wird mit dem Leben von Menschen »gespielt« und über Leichen gegangen, um die Macht zu bewahren.

»Wer in einer kriminellen Organisation geboren wird, hat Pech«, sagt Saviano. Es gibt für denjenigen nur zwei Optionen: entweder am Abzugshahn oder als Zielscheibe. Als »Ehrenmann« gelte der, der tötet oder töten lässt. Killer sorgen für Ordnung in der Organisation. Ein Boss mag sterben, ein Boss mag für Jahrzehnte im Gefängnis landen, egal. Hauptsache, die Organisation lebt. Mafiabosse kollaborieren nicht mit der Polizei oder der Justiz. Sie verbleiben lieber 40 Jahre im Gefängnis, allein, um die Organisation zu schützen.

Saviano erzählt von einem inhaftierten Boss, der Teilhaber von Restaurants in Deutschland sei. »Er wird diese Unternehmen nie sehen, weil er im Gefängnis sitzt. Aber die Organisation ist gesichert.« Um diese Strukturen zu bekämpfen, ergänzt der Autor, müsse der Kapitalismus bekämpft werden, das Profitstreben um jeden Preis. Ein Kampf gegen Windmühlen.

Savianos Texte sind gesättigte Literatur, Reportagen, gründlich recherchiert, in verknappter Sprache und knackigen Dialogen anschaulich gemacht. Er habe »jede Naivität verloren und jeden Glauben an eine gesellschaftliche Veränderung«, schrieb Saviano 2016 im Vorwort zur Taschenbuchausgabe von »Gomorrha«. »Aber ich hege immer noch eine fast dogmatische Hoffnung: die Hoffnung, dass das Erzählen einer Geschichte retten kann, was der Mensch noch an Menschlichem in sich trägt.«

Nach knapp zwei Stunden ist das Gespräch mit Lesung ausgewählter Passagen vorbei. Starker Applaus, Jubel, Standing Ovations. Danach das Bad in der Menge. Selfies, Handschlag, Autogramme. Ein freundlicher Mafiajäger genießt die Zustimmung in der sicher wirkenden Fremde. In die die Mafia längst vorgedrungen ist.

Roberto Saviano: Treue. Liebe, Begehren und Verrat. Die Frauen in der Mafia. A. d. Ital. v. Anna Leube u. Wolf Leube. Hanser, 272 S., geb., 24 €.

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