Unbeachtet und unbesungen

»Exil«: Wolfgang Benz über Vertreibungen 1933 bis 1945

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.
Rettung ins Ungewisse, in die Fremde: die Kindertransporte
Rettung ins Ungewisse, in die Fremde: die Kindertransporte

Dieses Buch ist sehr aktuell! Wolfgang Benz schreibt im Vorwort zu »Exil«, das über Vertreibungen und Ausbürgerungen von 1933 bis 1945 berichtet: »Die Geschichte des Exils aus dem ›Dritten Reich‹ ist ein Lehrstück, geschrieben in einer Zeit, in der Menschen in großer Zahl politisches Asyl begehren, in der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge Schutz und Hilfe in dem Land suchen, aus dem einst Bürger wegen ihrer Gesinnung oder ihrer Herkunft verfolgt und ermordet wurden, auf das Arme der existenziellen Hoffnungslosigkeit in ihren Heimatländern zu entkommen suchten.«

In den Mittelpunkt seines Buches stellt der langjährige Leiter des Instituts für Antisemitismusforschung an der TU Berlin nicht die prominenten Flüchtlinge aus dem »Dritten Reich«, deren Exilbiografien weitgehend bekannt sind, sondern Exilschicksale von Menschen, die nicht im Rampenlicht der Aufarbeitungsgeschichte stehen. Er gliedert sein Buch zeitlich in Kapitel über die frühen Verfolgungsmaßnahmen vor allem gegen Kommunisten und Sozialdemokraten und über die Diskriminierung, die zielgerichtet den Gang ins Exil erzwang.

Ein Kapitel behandelt die Orte des Exils, von den Anfängen im damals noch nicht zum Deutschen Reich zählenden Saarbrücken, in Wien, Prag und Amsterdam. Besonders problematisch erwies sich die restriktive Aufnahmehaltung der Schweiz, die ihre Grenzen – im Gegensatz zu ihrer offeneren Haltung während des Ersten Weltkriegs – nur Wenigen öffnete. Paris und Marseille, London, Moskau, Mexiko, New York, Lateinamerika Shanghai und Australien. Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Bedingungen, dorthin zu gelangen, waren unterschiedlich, bürokratisch und politisch oft bis zur Unmöglichkeit erschwert. Fast überall hieß es »Das Boot ist voll« oder auch »wir holen uns damit Kriminalität oder politische Unterwanderung« ins Land. Bis heute hört man das böse Echo dieser Verweigerungen. Die Grenzen waren fast überall zu. Generöse Ausnahme: Die Kindertransporte der 10 000 nach Großbritannien mit den Problemen der von ihren Eltern – meist für immer – getrennten Kinder.

Der vielfache Exilwunsch war Palästina, das damals noch britisches Mandatsgebiet war. Die dortige Verwaltung ließ nur abgezählte und handwerklich oder landwirtschaftlich ausgebildete Flüchtlinge ins Land. Benz beschreibt die zahllosen vergeblichen Versuche, illegal ins Land zu kommen und benennt Einzelne aus einer größeren Menge, die von der Mandatsverwaltung nach Mauritius im Indischen Ozean deportiert wurden und jahrelang unter entwürdigenden Umständen gefangen waren. Viele starben dort an den Entbehrungen. »Fiktion und Realität« heißt ein Kapitel über Literatur im Exil mit einem sehr lesenswerten Abschnitt über den Moskauer Schriftstellerkongress im Sommer 1934 und einigen zum Teil widersprüchlichen Einschätzungen deutscher Exilanten über den Stalinismus und die zu jener Zeit wütenden mörderischen Schauprozesse gegen »Unbequeme«. In jedem Kapitel kommen die Exilerfahrungen von Menschen zur Sprache, die unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle des Nachkriegsfeuilletons unbeachtet und unbesungen leben mussten.

Auslöser für den oft schwergefallenen Entschluss, ins Exil zu gehen, waren die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, beziehungsweise Repressalien und Bedrohungen an Leib und Leben. Wohin könnte es gehen, wenn die Auswahl so gering ist, mit welchen Mitteln? Damit und mit der erlösenden, aber oft enttäuschenden Ankunft am Ziel begann das Exil. Aber wann endete es, wenn es überhaupt endet? Benz beschreibt die Erfahrungen einzelner Rückkehrer in die Bundesrepublik wie in die DDR. Und er berichtet von Exilschicksalen, die im Exilland erfolgreich weitergingen.

Jedes Schicksal verlief anders. Michael Blumenthal musste 1939 mit seinen Eltern Berlin verlassen, arbeitete in den USA in der Privatwirtschaft und unter Kennedy als Botschafter und eröffnete 2001 als Direktor das Jüdische Museum in Berlin eröffnete. Auch »Ima wurde als Jüdin aus Berlin vertrieben«, zitiert der Autor aus »Mond über der Uhlandstraße« von Rachel Ron, »kam aber in Palästina, dann in Israel nicht zurecht. Sie versteht die Sprache nicht. Sie fährt fast jeden Tag ans Meer, blickt stundenlang auf die See. Heimweh nennt man das. Es ist nicht Berlin, was Ima fehlt. Brüssow in der Uckermark. Ein kleines Kaff. Wo man in Holzpantinen ging und Plattdeutsch sprach. Wo Menschen keine Unterschiede zwischen Menschen kannten. Wo es Fremde gar nicht gab. Wo Ima noch nicht enttäuscht vom Leben war.«

Wolfgang Benz: Exil. Geschichte einer Vertreibung 1933–1945. C.H.Beck, 407 S., geb., 60 Abb., 36 €.

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