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Berlin: Naziprozess unter Szenebeobachtung

Von rechter Gewalt Betroffener schildert Angriffe

Zum Prozess gegen Julian M. vor dem Amtsgericht Tiergarten waren mehrere Beobachter aus der Neonazi-Szene gekommen.
Zum Prozess gegen Julian M. vor dem Amtsgericht Tiergarten waren mehrere Beobachter aus der Neonazi-Szene gekommen.

Der Angeklagte sitzt in einem Glaskasten, die Zuschauer dürfen nicht einmal Hustenbonbons in den Gerichtssaal bringen. In einem Sicherungssaal vor dem Amtsgericht Tiergarten wird gegen Julian M. verhandelt. Dem 24-Jährigen werden mehrere Taten zur Last gelegt, die er innerhalb von nur rund zwei Monaten gemeinsam mit weiteren mutmaßlichen Neonazis begangen haben soll. Am Freitag fand der zweite Prozesstag statt, an dem die ersten Betroffenen als Zeug*innen vernommen wurden.

Einer von ihnen schildert vor Gericht in berührenden Worten, wie es ihm seit dem Angriff auf ihn geht. Am 13. September 2024 war er auf dem Weg nach Hause, als er von sieben Männern abgepasst wurde. Der Grund: Sein T-Shirt mit dem Logo der Antifaschistischen Aktion. Mehrfach sei ihm ins Gesicht geschlagen, er dazu gedrängt worden, das T-Shirt auszuziehen. Das habe er dann auch getan: »Ich habe das T-Shirt ausgezogen, um nicht im Krankenhaus zu landen«, sagt der Betroffene. Weil er einen Button der queeren Community am Rucksack hatte, sei er homophob beleidigt worden. Einer der Angreifer habe versucht, ihm sein Handy aus der Hand zu reißen, was aber scheiterte. Die Angeklagten hätten das T-Shirt präsentiert und darüber gelacht.

Bis heute spüre der Zeuge die Folgen des Angriffs. »Ich habe Angst, Panik, wenn es dunkel wird«, berichtet er. Zudem hätten sich seine Depressionen verschlimmert. Aus Angst vor weiteren Übergriffen sei er umgezogen. Der Angriff soll in der Nähe seines ehemaligen Zuhauses in Berlin-Marzahn erfolgt sein. Wiederholt wird der Zeuge von seinen Emotionen überwältigt, sodass die Richterin die Vernehmung zweimal unterbricht.

»Ich hab immer noch eine scheiß Angst, Panik und bin total angespannt.«

Eines der Opfer des angeklagten Neonazis Julian M.

Im Publikum sitzen eine handvoll junger, unverkennbarer Rechtsradikaler. Einer trägt eine Gürtel der Marke »Thor Steinar«, hat ein Tattoo auf der Hand, das einer schwarzen Sonne ähnelt. Eine junge Frau hat »444« auf dem Hals tättowiert, Szenecode für »Deutschland den Deutschen«. Angeregt, immer wieder grinsend und feixend verfolgen sie an diesem Freitagmittag den Prozess. Nicht gerade leise tauschen sie sich auf den Besucherbänken über die Vorwürfe aus. Der Angeklagte M. wirft ihnen immer wieder Blicke zu, kaut Kaugummi und vermeidet den Blickkontakt mit dem Betroffenen. Nach der Aussage des Betroffenen bittet er durch seinen Anwalt um Vergebung.

»Ich hab immer noch eine scheiß Angst, Panik und bin total angespannt«, sagt der Betroffene nach der Vernehmung zu »nd«. Seine Hoffnung sei, dass so etwas nie wieder passiere. Nicht ihm und auch nicht anderen Menschen.

Dass es überhaupt zu dem Verfahren gegen M. kommen konnte, liegt auch daran, dass die mutmaßlichen Angreifer im Nachgang ein Bild von sich in den sozialen Medien verbreiteten. Auf dem Foto, das auch im Prozess gezeigt wird, sind die jungen Männer in der in Tatortnähe gelegenen Kneipe »Zum Zapfhahn« zu sehen, wo sie das T-Shirt triumphierend in die Höhe halten.

Der Beschuldigte M. wurde am 23. Oktober 2024 im Zuge einer Polizeirazzia gegen mehrere mutmaßliche Mitglieder der Neonazi-Organisationen »Jung und stark« und »Deutsche Jugend voran« festgenommen. Seitdem befindet sich M. in Untersuchungshaft. Bei einer Neonazi-Demo am 14. Dezember 2024 hatten sich mehrere Gleichgesinnte noch auf einem Transparent mit dem Angeklagten solidarisiert.

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Der Überfall vom 13. September ist nur eine von vielen Taten, die M. vorgeworfen werden. Bereits am 28. August soll er einer Frau, die aus seiner Organisation ausgetreten sein soll, per Messenger Todesdrohungen geschickt zu haben. Am 20. September soll er einen Mann an einer Bushaltestelle in Marzahn niedergeschlagen haben. Auf den am Boden Liegenden habe er dann eingetreten und ihn mit einer ungeladenen Luftdruckpistole bedroht.

Am 19. Oktober sei es zu einem weiteren Angriff durch M. gekommen, diesmal in einer S-Bahn in der Nähe des Bahnhofs Lichtenberg. Aus einer 19-köpfigen Neonazigruppe heraus soll er mit sieben weiteren Personen einen Mann mit einem Antifa-Aufnäher auf der Jacke geschlagen und getreten sowie versucht haben, ihm das Kleidungsstück zu entwenden. M. soll dem Mann dann so fest ins Gesicht geschlagen haben, dass der Angegriffene zu Boden ging. Ein anderer Angreifer habe dem am Boden liegenden dann noch ins Gesicht getreten.

Bereits am ersten Prozesstag zeigte sich M. vor Gericht geständig. »Die Vorwürfe treffen in tatsächlicher Hinsicht zu«, erklärte sein Anwalt Mirko Röder. Der Prozess soll am 2. April fortgesetzt werden. Ein Urteil wird am 9. April erwartet.

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