- Kultur
- Erfindung des Popjournalismus
Andreas Banaski: »Sei ein Trottel, aber mit Stil! Und mit Herz!«
In »Die Wahrheit über Kid P.« kann man endlich die Texte des Popjournalismus-Wunderkinds Andreas Banaski wiederlesen
Ihr Herz schlägt, aber sie fühlen nichts. Sie hören und sehen, aber sie spüren nichts. Feuilletonisten sind die Sachbearbeiter der Kultur. Untote, die Bilder und Platten sortieren, etikettieren und in Schubladen packen. Es ist nämlich wurscht, ob ein künstlerisches Werk Neuer Realismus oder Post-Punk ist. Ob es »aussieht wie …« oder »klingt wie …«.
Entscheidend ist nur eins: Dass es knallt. Dass es uns durchschüttelt. Dass es uns rausreißt aus jener Hölle, die Alltag heißt. Und einer, der dies kapierte – mehr als jeder andere –, war Kid P. (das »P« stand für Punk). Ein Arbeiterkind aus dem Zonenrandgebiet, das 1979 nach Hamburg kam und dort aufblühte, collagenartig Super-8-Filme zusammenschnitt, ein Fanzine namens »Preiserhöhung« herausbrachte und Leserbriefe an die Musikzeitschrift »Sounds« schrieb. Die waren derart, nun ja, anders, dass der Redakteur Diedrich Diederichsen ihn als Autor anheuerte – die Welt sollte erfahren, was in diesem Kopf und, vor allem, in diesem Herz vorging.
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Und das war überfällig. Wer heute liest, wie in den End-70er Jahren über die sich erneuernde Popkultur geschrieben wurde, den packt das Grauen. Reihenweise scheiterten professionelle Redakteure daran, das Erlebte in lebendige Worte zu fassen. Das Neue, Aufregende wurde in eine verstaubt altbackene oder eine pseudojugendliche Sprache gepresst und erstickte unter Floskeln und Phrasen. Es war alles so laaaaangweilig.
Selbst das, was als neu verkauft wurde. Zum Beispiel die Düsseldorfer NDW-Band Nichts – »sie sind genauso langweilig wie du/das Leben. Kauf ihre Musik, ein Eigenheim und ein Mittelklasseauto.« Das sind Worte von Andreas Banaski, wie Kid P. mit bürgerlichem Namen hieß. Eine Reizfigur, gehasst und abgöttisch geliebt. Ein »Sounds«-Leser bezeichnete ihn als den »einzigen Vertreter der Menschlichkeit, Wärme, Liebe und des Startums«. Bei dessen Artikeln »man sich freuen konnte wie ein kleines Kind. Kid P., über den man lachen konnte, ohne je über ihn zu lachen.«
Kein Wunder, schließlich erzählte er wie ein Kind. Ungefiltert posaunte er seine Ansichten über Pop und die Welt hinaus, ohne Rücksicht auf irgendwelche Empfind- und Befindlichkeiten. In einer seiner berüchtigten Städtereportagen nahm er mal eben die komplette Musikszene Westberlins Band für Band auseinander. Doch tat er dies nicht von der Warte eines Zynikers aus, der von oben herab seine giftige Verachtung für die künstlerischen Kretins kundtut. Vielmehr sprach aus ihm eine ehrliche Empörung. Er wusste ja, wie gut englische Popmusik sein konnte, und verzweifelte darüber, dass den Deutschen nicht mal ansatzweise Ähnliches gelang.
»Sein Herz war liebend und voller romantischer, überlebensgroßer Ideale und Gefühle« (Hans Nieswandt). Und weil Kid P. die Wirklichkeit konsequent an seinen Idealen und Gefühlen maß, musste er immer wieder enttäuscht werden. Diese Enttäuschung packte er in Sätze, die eindeutiger nicht hätten sein können. Heilige Kühe gab es dabei keine, schon gar nicht Kritikerlieblinge und Säulenheilige der Indieszene. Er schlachtete die Sängerin der Banshees (»Wenn Siouxsie als Sängerin einzigartig ist, ist sie als Person unerträglich. Ich kann sie nicht aushalten. Ich finde sie vulgär.«) und New Order (»Sie stecken noch in der geistigen Pubertät, irgendwo zwischen fortgeschrittenem Architekturstudium (Hook) und gymnasialer Oberstufe (der Rest).«). Selbst die Ikone Sean Connery war vor seinem Fallbeil nicht sicher (»einer der gefallsüchtigsten Greise der Filmgeschichte«).
Im Gegenzug feierte er jenen Pop, der große Gefühle zelebrierte. »Irgendwie müssen Liebeskranke doch den Erdball regieren (und damit meine ich nicht die Herpes-Krankheit, wegen der Kid Creole sein Eheleben eingestellt hat).« Seine Begeisterung galt dabei nicht nur der Champions League (ABC, Human League, Dexys Midnight Runners), sondern auch Vertretern der Zweiten Liga wie den Nolans, einer Schwesterngruppe aus Irland, die unter Teenagern zahlreiche Fans hatte. Und Teenager, um genau zu sein: Teenagerinnen, hatten immer recht.
Einer seiner ergreifendsten Artikel – es ging um die Blow Monkeys – hob an mit den Worten: »Es war ein schlechter Tag für den Sex. Aber laßt mich ganz von vorne beginnen. Alles fing damit an, daß mir ein MÄDCHEN erzählte, sie höre jetzt immer ein Stück im Radio, und es wäre so wie DAMALS (damals — Schlüsselwort in Mädchenbeziehungen): Orange Juice, Aztec Camera, Süße & Verzückung. Und seht, ich nehme meine Aufgabe verdammt ernst und spitzte die Ohren.«
Das ist kein runtergerockter Musikjournalismus, das ist Poesie. Literatur, die zwischen zwei Buchdeckel gepresst gehört. Das dachten sich auch zwei seiner Freunde: der Musikjournalist Christoph Dallach und der Musiker Andreas Dorau. Auf den Fahrten zum Sanatorium – Banaski war 2013 schwer erkrankt – kam ihnen die Idee, ein Buch mit ausgewählten Texten von ihm zu veröffentlichen. Nun ist es erschienen: »Die Wahrheit über Kid P.«, herausgegeben von Erika Thomalla, Professorin für Buchwissenschaft in München.
Im Mittelpunkt dieses Buches steht seine wilde Zeit bei »Sounds« von 1981 bis 1983, als er nicht nur die Leser, sondern auch kommende Schreiber mit seinem Stil inspirierte und infizierte. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf den »Spex«-Jahren in den späten 80ern, als seine Sätze schon mal 30 Zeilen und länger waren. Da brauchte man Minuten, bis man das Prädikat des Hauptsatzes gefunden hatte. Spaß machen die Texte dennoch, denn wie Banaski (das Pseudonym Kid P. hatte er abgelegt) in seinen Nebensätzen, Einschüben und Klammern immer wieder neue Fässer aufmacht und dabei Verknüpfungen zwischen Fußballeuropameisterschaften, alten Hollywoodfilmen und Politik herstellt – das ist ein Fest für Freunde des assoziativen Denkens.
Parallel dazu studierte er Bibliothekswesen. Der nächste berufliche Schritt lag da nahe. Anfang der 90er wurde Banaski Dokumentar bei »Tempo« – eine Art lebendes Google für die Mitarbeiter, nur viel kreativer und feinsinniger. Er baute dort ein gigantisches Popkultur-Archiv auf, das den Tod der Zeitschrift 1996 überlebte. Er schrieb jetzt nur noch selten.
Als sein Kollege aus »Spex«-Zeiten, Sebastian Zabel, 2012 Chefredakteur des »Rolling Stone« wurde, erlebte Banaski ein viel zu kurzes Comeback. Einmal mehr gelang es ihm, Miniaturen wie diese zu erschaffen: »Der Beatle war die natürliche Entwicklungsstufe des Teenagers; Lederjacke, Mähne, Kassenbrille und Hang zur Hochnäsigkeit, Rebellion, aber Schwanz einkneifen, wenn’s brenzlig wird. In das Bankangestellten-Erscheinungsbild der biederen Beach Boys musste man erst langsam mit zurückweichendem Haaransatz und zunehmender Leibesfülle hineinwachsen.« Es ist eine Freude, solche Sätze endlich gebündelt lesen zu können (statt zerlesene Zeitschriften hervorkramen zu müssen).
Umrahmt werden seine Texte von Essays privater und beruflicher Weggefährten wie Clara Drechsler, Detlef Diederichsen und Hans Nieswandt. Sie alle haben ihren Kid P. studiert und verinnerlicht. Die subjektive Art des Schreibens ist schon lange im Mainstream angekommen. Und doch kann selbst ein Autor wie Moritz von Uslar in einem entscheidenden Punkt nicht an den deutschen Godfather des (mittlerweile nicht mehr ganz so neuen) New Journalism heranreichen: Kid P. war uneitel. Auch sich selber schonte er nicht, er gab herrlich triviale Dinge preis (»ich kenne niemanden, der beim Zerschneiden eines Brötchens so krümelt wie ich«). Seinen Appell »Sei linkisch, sei ein Trottel, aber mit Stil! Und mit Herz!« hat kaum einer seiner Schüler beherzigt.
In seinem Vorwort weist Diedrich Diederichsen auf sein »proletarisches Dandytum« hin, das er den oft reichen Kindern im »ultraklassisistischen Hamburg« entgegenhielt, deren soziale Herkunft er in seinen Texten stets klassenanalytisch erwähnte. Das andere Vorwort stammt von der Herausgeberin Erika Thomalla. Wie auch die im Buch vertretene Kultursoziologin Elena Beregow bewegt sie sich schon von Berufs wegen auf geistigen Straßen, die von Leitplanken und Pollern begrenzt sind. Wortreich versuchen sie den Lesern zu erklären, warum sich ein Freigeist wie Kid P. damals Unverschämtheiten erlauben konnte, die sie heuer ihre akademische Laufbahn kosten würden. Dass er, das Arbeiterkind, von »Studentenpack« statt von »Studierenden« spricht, gehört da noch zu den lässlichen Vergehen. Indem ihn die beiden Wissenschaftlerinnen zu historisieren versuchen – als abgeschlossenes Kapitel einer längst vergangenen Epoche –, lenken sie nur umso deutlicher den Scheinwerfer auf die Gegenwart. Einer wie er fehlt in der geistigen Welt des Jahres 2025. Sogar zur Reizfigur des alten weißen Mannes fand er bereits 1984 die richtigen Worte. Überlassen wir Kid P. also das Schlusswort:
»Die Aufgaben des ›alten Mannes‹? Zuhause bleiben und ein restauratives Ambiente schaffen. Sich in kleinbürgerlicher Geborgenheit gefallen. Ein gutes Buch zur Hand nehmen und ein liebevolles Weiblein, wie es, emanzipiert und übermächtig lebensklug, noch in Dickens-Epen zu finden ist. Harmlose Vergnügungen, denen ohne sonderliche Gefährdungen und Aufregungen nachzugehen ist. Die Beine lang machen und bisweilen zum Telefonhörer greifen und sich dann und wann in maßloser Übertreibung von den letzten Zuckungen des in Agonie dümpelnden Nachtlebens Bericht erstatten zu lassen. Von wem? Nun von euch, die ihr doch nicht lernt und immer wieder hinausgetrieben werdet durch Unbekümmertheit, Gedankenlosigkeit und sexuelle Notdurft.«
Erika Thomalla (Hg.): Die Wahrheit über Kid P. Wie ein Hamburger Punk den deutschen Popjournalismus erfand. Ausgwählte Texte von Andreas Banaski. Mit einem Vorwort von Diedrich Diederichsen, Junius-Verlag, 272 S., br., 22 €.
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