»Unsere Gegenwart ist durchtränkt von kolonialen Strukturen«

Ab Mittwoch beginnt das Arabische Filmfestival in Berlin. Kurator Iskandar Abdalla im Gespräch über verlorene Zukünfte und alternative Realitäten

  • Interview: Inga Dreyer
  • Lesedauer: 6 Min.
Ist es ein Traum oder ein Albtraum? Szene aus dem Film »Perfumed with Mint«
Ist es ein Traum oder ein Albtraum? Szene aus dem Film »Perfumed with Mint«

Am Mittwoch beginnt das Arabische Filmfestival. Sie haben die Reihe Spotlight kuratiert, die sich unter dem Titel »Canceled Futures, Endless Pasts« mit (post-)kolonialen Strukturen beschäftigt. Warum gerade jetzt dieses Thema?

Ausgangspunkt ist eine Kritik an der Vorstellung, dass Kolonialismus oder koloniale Strukturen etwas sind, aus der Vergangenheit stammten und überwunden wurden. Unsere Gegenwart ist durchtränkt von kolonialen Strukturen, die auch die möglichen Zukünfte und Zukunftsvorstellungen der Menschen in der Region beeinflussen. Kolonialismus wird als etwas gesehen, von dem bloß Reste geblieben sind. Wir versuchen, dagegenzusteuern.

Es geht aber auch darum, sich vorzustellen, dass es alternative Möglichkeiten gibt, Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Wir wollen Selbstverständlichkeiten infrage stellen. Denn was wir aktuell erleben, ist kein Zufall. Jemand wie Trump ist nicht einfach ein Verrückter, ein Fehler im System. Er ist das Ergebnis von etwas, was das System in sich trägt. Dass wir im Spotlight Genres wie magischen Realismus, Dystopien und Utopien zeigen, ist auch eine Kritik an der Gegenwart. Es ist an der Zeit, zu gucken: Was ist falsch gelaufen? Und vielleicht ist ein Weg tatsächlich, sich andere Welten vorzustellen. Ich glaube, das Schlüsselwort ist Imagination.

Interview

Iskandar Abdalla wurde im ägyptischen Alexandria geboren und promoviert derzeit an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies (BGSMCS). In seiner Forschung beschäftigt er sich mit dem Islam in Europa, aber auch mit Themen, die Film und Kulturgeschichte der arabischen Welt betreffen. Studiert hat er Geschichte und Nahoststudien an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Islamwissenschaft an der Freien Universität in Berlin. Seit 2015 arbeitet er beim Arabischen Filmfestival Berlin mit und hat den diesjährigen Schwerpunkt »Canceled Futures, Endless Pasts« kuratiert.

Wie zeigen sich koloniale Strukturen in der Gegenwart?

Wenn wir zum Beispiel die politischen Regime in der Levante oder in Nordafrika nehmen, sind diese auf den ersten Blick aus einem dekolonialen Moment geboren. Beispielsweise bei Nasser in Ägypten war Dekolonialisierung sozusagen Staatsräson. Aber gleichzeitig gibt es Kontinuitäten wie die Gesetze der Länder oder die Abhängigkeiten von Investitionen aus dem Ausland. Das globale Wirtschaftssystem bringt neue Formen der Ausbeutung mit, auch wenn die Region scheinbar unabhängig ist. Diese Strukturen funktionieren auch dank des Anscheins weiter, dass sie überwunden sind. Da wollen wir ansetzen und fragen, was dekoloniale Praxis im Film bedeutet.

Spielt die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe in arabischen Filmen derzeit eine große Rolle?

Die Kritik an kolonialen Strukturen ist in den Filmen, die wir zeigen, nicht unbedingt bewusst oder ausgesprochen. Ich glaube, das Spotlight-Thema ist unser Deutungsmuster, sozusagen die Brille, mit der wir die Filme lesen. Das war spannend. Denn normalerweise haben wir mehr ältere Filme als neue in der Reihe, aber dieses Jahr sind die meisten aus den Jahren 2023 und 2024. Viele von ihnen nutzen magische und dystopische Elemente.

Ist es Zufall, dass magischer Realismus in dem Programm eine so große Rolle spielt?

Ich glaube nicht an Zufälle. Ich denke, da steckt eine tiefere Bedeutung dahinter. Es gibt eine Müdigkeit gegenüber konventionellen Narrativen. Sie sind angesichts der vielen aktuellen Krisen irgendwie gescheitert, können uns nicht weiterhelfen. Ich glaube aber, dass Imagination uns helfen kann. Sie kann ein Mittel der Selbstermächtigung sein. Denn wenn unsere Gegenwart so träge und aussichtslos ist, ist der einzige Weg, sich zu befreien und sich andere Realitäten vorzustellen. Wir finden uns nicht mit der aktuellen Situation ab, sondern setzen uns kritisch mit ihr auseinander.

Das Gefühl habe ich persönlich auch angesichts der aktuellen Realität hier in Deutschland. Ich habe den Eindruck, ich brauche etwas, an das ich mich halten kann: vielleicht die Vorstellung einer anderen Welt. Film und Kunst sind ein Weg, alternative Imaginationen wiederzubeleben und zu praktizieren. Ich glaube aber auch, dass es einen praktischen Aspekt gibt.

Welchen denn?

Wenn wir zum Beispiel den Film »Perfumed with Mint« angucken: Ägypten ist ein Land mit einer sehr langen und spannenden Filmtradition und vielen neuen, jungen Talenten. Aber es gibt einen großen finanziellen Druck und eine Abhängigkeit von Geldern aus dem Ausland – wie beispielsweise aus den Golfstaaten.

Das Poetische kann für viele ägyptische Filmemacher*innen unter dem Druck von Zensur, von politischen und sozialen Tabuisierungen einen möglichen Ausweg darstellen, um bestimmte Themen anzugehen, um Geschichten über Angst, Repression, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zu erzählen, die in direkten oder konventionellen Erzählformen nicht frei artikuliert werden können.

Wie zeigt sich das Poetische und Surreale in den Filmen des Festivals?

Beim »Perfumed with Mint« wissen wir beispielsweise nicht, in was für einer Welt wir uns befinden: Ist es ein Traum oder ein Albtraum? Wir sehen, dass die Zukunft eine parallele Gegenwart mit eigenen Regeln ist. Die Toten leben als Minzblätter auf den Körpern ihrer Verwandten weiter – also als Pflanzen. Das ist auch visuell sehr interessant. Denn es ist alles sehr grau und düster, und die Minzblätter sind das einzig Grüne.

Natur und ökologische Aspekte werden bei vielen der Filme im Programm thematisiert. Es werden neue Arten der Beziehung zur Natur oder zum Nicht-Menschlichen aufgebaut – ob zu Geistern oder Tieren. »Agora« zum Beispiel ist wie ein Traum mit Tieren. Man sieht vor allem Hunde. Durch die Kameraeinstellungen bekommt man den Eindruck, dass die Tiere verstehen, was los ist, während die Menschen verloren sind.

Der Film »Silent Storms« kann als Rache der Natur gelesen werden. Dort bricht eine Naturkatastrophe über ein Dorf herein, in dem während der Kolonialzeit und im Bürgerkrieg viele Gewalttaten passiert sind. Es ist eine Art fiktives Land in Nordafrika, das Algerien ähnelt. Die Naturkatastrophe kann als Metapher gelesen werden – durch sie werden die Toten geweckt, die Rache nehmen. Sie rächen sich, weil ihnen die Zukunft genommen wurde.

Welche alternativen Realitäten werden in den Filmen verhandelt?

Der palästinensische Dokumentarfilm »Lyd« beispielsweise erzählt vom Schicksal der gleichnamigen Stadt über verschiedene Zeiten hinweg, also während der britischen Besatzung, der Nakba und in der Gegenwart. Lyd liegt in Israel, aber hat eine große arabische Bevölkerung. Durch animierte Sequenzen versucht der Film eine alternative Vergangenheit der Stadt zu imaginieren: Was wäre, wenn es den Kolonialismus nicht gegeben hätte? Wenn die Briten nicht nach Palästina gekommen wären? Wenn Frankreich und Großbritannien nicht vereinbart hätten, den Nahen Osten zu teilen? Dieser Ansatz, mit alternativen Zukunftsweisen zu arbeiten, war für mich der Ausgangspunkt für das Spotlight.

Einer der wenigen älteren Filme im diesjährigen Spotlight ist »My Name is not Ali«von Viola Shafik aus dem Jahr 2011. Warum haben Sie ihn ausgewählt?

Ich habe diesen Film vor ein paar Jahren in Berlin gesehen und gedacht: Das ist für mich die Art und Weise, wie Film als dekoloniale Praxis funktioniert. Es wird ein vergessener Charakter in den Blick genommen und das Unerzählte erzählt. Der Film lädt uns ein, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und zeigt uns die Kehrseite der Dinge. In diesem Fall steht Deutschland, also der Westen, im Zentrum. Wie reden nicht nur vom kolonialisierten Anderen, sondern wenden unseren Blick auch in die andere Richtung. Viola Shafik ist eine ägyptisch-deutsche Filmemacherin und Filmwissenschaftlerin. Sie porträtiert den Hauptdarsteller aus dem Meisterwerk »Angst essen Seele auf« von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974. Das war einer der ersten deutschen Filme, die über Migration sprachen. Shafik interviewt Menschen, die El Hedi Ben Salem kannten. Sie reist nach Marokko, um zu verstehen, wie er nach Deutschland gekommen ist. Ich möchte nicht spoilern, aber sie deckt dabei schreckliche Dinge auf. Der Film zeigt, dass auch Menschen, die es gut meinen, Formen von Gewalt reproduzieren können.

Das Arabische Filmfestival (Alfilm) findet vom 23. bis 30. April statt.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -