Ersatzfreiheitsstrafen: Knete statt Feile

Der Freiheitsfonds kauft arme Menschen aus dem Gefängnis frei – und wird dabei von Mitarbeitern der Justizvollzugsanstalten unterstützt

Freiheitsfonds – Ersatzfreiheitsstrafen: Knete statt Feile

Zwei Monate war Lina Ritter* im Gefängnis, verurteilt, weil sie den öffentlichen Nahverkehr ohne gültiges Ticket genutzt hat. Wie es dazu kam, ist eine spezielle Geschichte – und auch wieder nicht. Im Kern zeigt sie, wie die Kriminalisierung von Schwarzfahren das ohnehin prekäre Leben von Menschen weiter verschärft.

Ritter ist alleinerziehend und lebt mit ihrem Sohn in Aachen. Als eine Freundin aus ihrer Wohnung raus musste und zu krank war, eine neue zu suchen, nahm Ritter sie auf. Zu dem Zeitpunkt, erzählt sie dem »nd«, habe sie im Schichtdienst gearbeitet bis zu 13 Stunden lang. Während sie auf der Arbeit war und ihr Sohn in der Schule, fuhr ihre Freundin ohne Ticket mit den Öffentlichen und wurde mehrmals dabei kontrolliert. Bei den Kontrollen benutzte sie den Ausweis von Ritter, der sie ähnlich sah. Sie selbst hatte keinen gültigen.

Die Freundin starb im Krankenhaus, während Ritter mit mehreren erhöhten Beförderungsentgelten überhäuft wurde – bis sie diese mit ihrem schmalen Gehalt nicht mehr zahlen konnte. Ein Verfahren wurde eingeleitet. Das Aachener Verkehrsunternehmen hatte Lina Ritter angezeigt. 5000 Euro sollte sie zahlen – zu viel für die Alleinerziehende. Sie musste ins Gefängnis.

Häufigste Form der Freiheitsstrafe

In Deutschland ist die Rechtslage so: Wer sein Auto falsch parkt und dabei erwischt wird, bekommt ein Knöllchen. Wer mit der Bahn ohne Ticket fährt und kontrolliert wird, bekommt auch eines. Nur der Schwarzfahrer begeht im Gegensatz zum Falschparker keine Ordnungswidrigkeit, sondern eine Straftat, für die Haft drohen kann. Grundlage dafür ist der Paragraf 265a des Strafgesetzbuchs, das sogenannte Erschleichen von Leistungen – ein Erbe aus der Zeit des Nationalsozialismus. Dafür ist bis zu einem Jahr Haft oder eine Geldstrafe vorgesehen.

Während der Haftzeit verlor Lina Ritter ihre Arbeit. Ihr Sohn blieb allein zu Hause, kümmerte sich um die Haustiere und zahlte mit seinem Ausbildungsgehalt die Miete. Fast hätte die Familie auch die Wohnung verloren. »Es war völlig aussichtslos«, erzählt sie. Doch ein Sozialarbeiter setzte sich für sie ein. Er erzählt ihr vom Freiheitsfonds, der Menschen aus dem Gefängnis freikauft. Stellt beim Verein einen Antrag. Es dauert nur ein paar Tage, dann ist Lina Ritter frei.

»Ich bin erst mal die Zellenwand runtergerutscht und saß völlig entgeistert auf dem Boden«, erzählt sie von ihrem »Freedom Day«. Elf solcher Aktionstage, an denen zeitgleich mehrere Menschen deutschlandweit freigekauft werden, hat der Verein seit seiner Gründung im Jahr 2021 organisiert. Für 1288 Menschen, die im Gefängnis saßen, weil sie ohne Ticket gefahren sind, hat er die Strafe übernommen. Die Aktionen haben das System der Ersatzfreiheitsstrafe und seine Folgen in die breite Öffentlichkeit gerückt.

»Eine Person fährt drei Mal ohne Ticket – so die Daumenregel – dann kommt es zur Anzeige durch das Verkehrsunternehmen«, erklärt Leonard Ihßen vom Freiheitsfonds dem »nd«. »Daraufhin ermittelt die Staatsanwaltschaft und Rechtspfleger*innen werden mit dem Fall beschäftigt. Dann bekommt die Person eine Geldstrafe, die sie nicht zahlen kann, denn sie ist arm. Das ist nur folgerichtig, schließlich konnte sie schon das Ticket nicht bezahlen. Dann ermittelt die Polizei, sucht die Person und steckt sie zum Beispiel in die JVA Plötzensee. Und wenn die Person dann in der JVA ist, schreibt ein Justizbeamter oder eine Justizbeamtin uns – einem spendenfinanzierten Verein – einen Antrag und sagt: ›Bitte könnt ihr diese Person freikaufen?‹«, schildert der Aktivist den typischen Ablauf: »Eine Kaskade.« Ein riesiger Bürokratieaufwand steckt hinter der strafrechtlichen Verfolgung des Fahrens ohne Ticket.

Wer die Strafe nicht zahlen oder aufgrund von Wohnungslosigkeit oder Suchterkrankung nicht abarbeiten kann, muss eine Ersatzfreiheitsstrafe im Gefängnis absitzen – meist für mehrere Monate. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist in Deutschland inzwischen die häufigste Form der Freiheitsstrafe. Der Transparenzplattform FragDenStaat zufolge kostet ein Hafttag den Steuerzahler je nach Bundesland zwischen 98 und 188 Euro. Ein Sprecher der Senatsverwaltung für Justiz gibt an, dass zum Stichtag 26. Februar in Berlin 219 Personen mit einer Ersatzfreiheitsstrafe in einer Strafvollzugsanstalt saßen – die meisten davon wegen Fahren ohne Ticket. Deutschlandweit sitzen schätzungsweise 9000 Menschen jährlich ein, weil sie den öffentlichen Nahverkehr ohne gültiges Ticket genutzt haben.

Wer Geld hat, landet nicht im Knast

Trotz der kurzen Haftzeit hatte Lina Ritters Familie mit bleibenden Folgen zu kämpfen. »Das war so ein Berg, vor dem du stehst«, sagt Ritter. Anträge über Anträge, die es auszufüllen gab. Arbeitslosengeld, dass nicht pünktlich kam. Ein Vermieter, auf dessen Nachsicht sie angewiesen war, weil sie die Miete nicht fristgerecht zahlen konnte. Ihre Geschichte steht exemplarisch für die strukturellen Bedingungen, weshalb Menschen ohne Ticket fahren, weshalb sie Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen und welche Folgen mit der Haft einhergehen.

Der Freiheitsfonds hat viele der Geschichten auf seiner Website gesammelt: Sie erzählen von wohnungslosen, geflüchteten und behinderten Menschen. Von Menschen, die wegen der Haftstrafe ihre Wohnung verlieren oder deren Kinder in Pflegefamilien landen. Sie alle eint die Armut. Laut der Website Ersatzfreiheitsstrafe haben 95 Prozent der Betroffenen weniger als 1000 Euro monatlich zur Verfügung, nur ein Prozent hat Rücklagen. 77 Prozent der Betroffenen sind arbeitslos. 20 Prozent zum Haftantritt obdachlos.

13 Städte haben sich entschieden, das wiederholte Fahren ohne Fahrschein nicht mehr zur Anzeige zu bringen.

»Zu wenig auf der Geldkarte? Knast. Genug auf der Geldkarte? Kein Knast«, fasst Leonard Ihßen das Prinzip zusammen. Er spricht auch von der Geldkarte als bestem Instrument der Gefangenenbefreiung anstelle der Feile – und davon, welche Schlüsselfunktion Mitarbeitende in der Justiz einnehmen. »Die meisten Aufforderungen zum Freikauf kommen von Justizvollzugsbeamt*innen«, sagt Ihßen. Manche handelten aus Solidarität, andere eher, um die JVA zu entlasten und freie Gefängnisplätze zu schaffen. Wenn es nicht die Beamt*innen selbst sind, die sich an den Freiheitsfonds wenden, kommen die Anfragen von Sozialarbeiter*innen aus der JVA, so wie im Falle von Lina Ritter.

Caro Schmidt und Özge Bayram* arbeiten als externe Sozialarbeiter*innen in der Straffälligenhilfe in einer JVA in Frankfurt am Main. Vom Freiheitsfonds haben sie 2021 durch eine Sendung bei Jan Böhmermann gehört – für die Folge recherchierte die Plattform FragDenStaat, die die Idee für den Fonds hatte. Nach der Sendung gründete sich der Verein, weil es so viele positive Rückmeldungen und Spenden aus der Zivilgesellschaft gab. Schmidt und Bayram beschlossen mit ihrem Träger der sozialen Arbeit, die Gefangenenbefreiung aus politischen Gründen zu unterstützen, wie sie dem »nd« erzählen.

»Die Menschen wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe einzusperren, macht überhaupt keinen Sinn«, sagt Bayram. Denn die meisten seien »eh schon am Rande der Gesellschaft«. »Eine wohnungslose Person entscheidet nicht: Heute fahre ich schwarz.« Für die Betroffenen stelle die Inhaftierung eine massive psychische Belastung dar und gehe nicht selten mit Jobverlust und Orientierungslosigkeit einher, so die Sozialarbeiterin.

Schmidt und Bayram wenden sich immer nur in Absprache mit den Betroffenen an den Verein. Manche lehnen das Angebot ab, da sie Obdachlosigkeit außerhalb der Haft erwarte. In der Kriminalisierung des Fahrens ohne Ticket sehen die Sozialarbeiter*innen eine Politik, die Arme straft. »Der Staat übernimmt Aufgaben von Unternehmen«, sagt Schmidt.

Politische Fortschritte im Kleinen

Aber in der Frage bewegt sich etwas. 13 Städte in der Bundesrepublik haben sich entschieden, das wiederholte Fahren ohne Fahrschein nicht mehr zur Anzeige zu bringen. Zuletzt entschied im Februar der Stadtrat von Bonn, künftig auf Strafanzeigen in diesen Fällen zu verzichten. Zudem sollen keine Bußgeldverfahren mehr eingeleitet werden, falls die sogenannte Beförderungserschleichung zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden sollte.

Der Freiheitsfonds fordert statt einer Herabstufung die ersatzlose Streichung des Paragrafen. »Bei einer Ordnungswidrigkeit besteht immer noch die Gefahr einer Erzwingungshaft«, sagt Ihßen. Er verweist darauf, dass die meisten Suizide im Knast kurz nach Inhaftierung geschehen. »Für den Staat wäre die ersatzlose Streichung ebenfalls am besten. Hierdurch könnten die meisten Ressourcen eingespart und die Justiz entlastet werden.«

Eine Entlastung der Justiz fand auch die FDP gut, die 2024 zum ersten Mal seit 90 Jahren einen Gesetzentwurf vorgelegt hatte, der die Entkriminalisierung von Fahren ohne Ticket vorsah. Doch der Entwurf schaffte es im Januar nicht in den Rechtsausschuss, trotz der spektakulären Berechnung, 120 Millionen Euro jährlich an Steuergeldern durch die Streichung des Paragrafen sparen zu können. Woran es scheiterte, kann Ihßen nicht sicher sagen. Die Koalitionsparteien sollen einander gegenseitig vorgeworfen haben, Schuld gewesen zu sein.

»Ich glaube, die Verkehrsbetriebe spielen eine wichtige Rolle und haben auch eine gewisse Lobby«, meint Ihßen. Denn der Straftatbestand führe dazu, dass sie weniger Arbeit haben. »In Berlin sagt sogar die Staatsanwaltschaft: Wir möchten das nicht verfolgen, wir widmen uns lieber anderen – wichtigeren – Dingen. Nur wenn der Strafantrag gestellt ist, dann muss sie das verfolgen«, sagt der Aktivist. Auf Bitte um Stellungnahme verweist ein Sprecher der BVG darauf, dass diese Diskussion auf Ebene der Politik geführt werden müsse.

Mit den Politiker*innen, die in dieser Legislatur mit hoher Wahrscheinlichkeit im Rechtsausschuss sitzen werden, steht der Freiheitsfonds in Kontakt. Genauso mit den Kandidat*innen für das Justizministerium. Von einem SPD-geführten Ministerium erhofft sich der Verein Unterstützung bei der Entkriminalisierung. Bei der CDU hingegen geht der Kurs in die entgegengesetzte Richtung. »Die CDU hat in mehreren Interviews im Wahlkampf das Fahren ohne Ticket adressiert, und zwar immer im Kontext von vermeintlich steigender Kriminalität und ›migrantischer Kriminalität‹«, sagt Ihßen. Sowohl Carsten Linnemann als auch Hendrik Wüst hätten gesagt, man müsse nach der zweiten Straftat abschieben und sich dabei explizit auf das Fahren ohne Ticket bezogen. »Das käme einer Verschärfung der Kriminalisierung gleich: Weil eine Abschiebung oder der Entzug eines Doppelpasses eine weitere harte Strafe oben drauf ist.«

*Namen von der Redaktion geändert

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