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Wien: Für immer in den Achtzigern
Wien, was ist das bloß für eine Stadt? Beobachtungen eines westdeutschen Migranten
Neulich habe ich erstmals einen hier gesehen. Hier in Wien. Einen Mann, der mit einer kleinen Taschenlampe in einen Mülleimer hineinleuchtete. Ein Bild, das man in Berlin schon gar nicht mehr wahrnimmt; dort sind speziell Flaschensammler seltener geworden. Aber auch das könnte nur ein subjektiver Eindruck sein. In Wien gibt es sie noch nicht lange, bisher treten sie sehr vereinzelt auf. Das liegt daran, dass es in Österreich erst seit dem 1. Januar ein Pfand auf Mehrwegflaschen gibt. Das Pfandzeichen sieht etwas anders aus als in Deutschland; trotzdem fand schon hier und da Pfandtourismus statt – Bierkästen zum Beispiel bringen in Österreich mehr ein als in Deutschland, sieben Euro statt 3,10 Euro.
Auch andere Phänomene gravierender sozialer Unterschiede schleichen sich allmählich in die gemeinhin als sauber geltende Stadt Wien ein: Es kommt vor, dass in der U-Bahn gebettelt wird. Straßenmusiker finden bislang nur in den Bahnstationen Platz. Dass jemand einen gesamten S-Bahn-Waggon vollstinkt wie kürzlich in Berlin, ist auch noch nicht passiert, auch wurden noch keine Wurfzelte in Parks gesichtet. Aber viel fehlt nicht mehr bis dahin. Es ist schließlich nicht so, dass es in Wien keine Armut gäbe; wer sich auskennt, weiß, was einem zum Beispiel am Margaretengürtel erwartet. Und trotz der schleichenden Verelendung hat sich Wien den Ruf einer sozialen Stadt bewahrt. Das liegt daran, dass die Mieten hier immer noch relativ niedrig sind, was am kommunalen Wohnungsbau und der Allzeitübermacht der recht sozialen SPÖ liegt.
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Am Sonntag ist in Wien wieder Wahl, und sie wird nichts daran ändern. Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), dessen Konterfei man durch die großen Fenster des Entrees im Burgtheater sehen kann, was ein lustiger bis spukhafter Effekt ist, wird sich danach aussuchen können, ob er mit den Grünen (anstrengend) oder den Neos (Liberale, nicht ganz so daneben wie die FDP) regieren will. Selbst die ÖVP, die Konservativen, die mit dem Wahlslogan »Wien bleibt Wien« leicht paradox in den aussichtslosen Wahlkampf zogen (inzwischen gibt es den Button »Nur mit uns«, der nichts besser macht), könnten sich noch als Juniorpartner andienen.
Die KPÖ, traditionell stärker in den Städten, könnte ins Rathaus einziehen; die FPÖ zweitstärkste Kraft werden, aber selbst sie kommt in der multikulturell daherkommenden Stadt mit ihrem Protz und ihrem Prunk, ihrem Schmäh und ihrem Hang zum Morbiden nicht weit. Ja, Wien ist voller Klischees, und das macht die Stadt auch so schön. Man nehme noch das Kaffeehaus (Wiener Kaffee erstaunlich schlecht, dafür teuer), die Literatur, die Psychoanalyse, die Musik, den Prater mit Riesenrad (»Der Dritte Mann«!) und den Stadtpark mit all den alten Sitzbänken dazu: Es stimmt alles.
Bloß, wie sieht der Alltag in Wien aus? In Wien sehen die Hipster zum Beispiel eine Spur anders aus als in Berlin; nicht so amerikanisch, also seltener mit Tennissocken und Pluderhosen. Dafür mit Baseballcaps und hervorschauenden langen Haaren, und im Gesicht mit seltsamen Schnauzbartkreationen. Wie aus »Kottan ermittelt« geklaute Gestalten. Sehr österreichisch irgendwie.
Und kulturell? Von »Before Sunrise«, dem ersten Rohmer-für-die-GenX-Film von Richard Linklater von 1994, darf man sich als Tourist übrigens nicht leiten lassen. Die Szenerien sind wahllos aneinandergehängt, es ist fast unmöglich, das alles in eine Wiener Nacht zu packen. Aber darauf kommt es nicht an: Linklater ist Wien mit Respekt begegnet, als es noch eine bedeutungslose Stadt im politischen Niemandsland war. In einer Szene sieht man den jungen Tex Rubinowitz auf einer Brücke stehen und Werbung machen. Der Plattenladen, den Julie Delpy und Ethan Hawke besuchen, gibt es auch immer noch: »Teuchtler – Alt & Neu« ist voll von japanischen Touristen, aber ich habe da neulich auch ein paar gute Platten abgestaubt. Die zweite Charlottes für 30 Euro. Fündig wird man in diesem 80er-Jahre-Fundus, den die Stadt auch irgendwie darstellt, fast immer.
Wien steckt in den 80ern fest, immer noch. Autos brausen lustig durch die Stadt. Der Einzelhandel blüht. Überall blüht der Asphalt. Auch wenn er hier und da aufgebrochen wird, was zeitgemäß aufgeräumt und stylish, aber nicht unbedingt naturbelassen aussieht. In Rudolfsheim, einer Art Neukölln in sanft und brüchig, gibt es einen Italiener, der samt Interieur vor ein paar Jahren irgendwo rausmusste und lediglich ein paar Häuser weitergezogen ist – nix Renovierung, alles so belassen! Sogar die Preise. Man hört »I’m Still Standing« von Elton John und isst eine Pizza Salame für 8,50 Euro, während alles dunkel und holzvertäfelt ist und leicht angeschmoddert. »Mafiosi« heißt die Pizzeria. Man fühlt sich um 40 Jahre zurückversetzt.
Natürlich geht es auch sehr modern zu in dieser Stadt. Obwohl, die WLAN-Verhältnisse sind sogar noch schlechter als in Deutschland; jedenfalls, was offene Netzwerke angeht. Barzahlung geht oft noch vor Kartenzahlung. Dafür ist der Alltag voll mit Elektronik – Kleinstkinder schauen Youtube; ein Anrufer im Bus hustet in brülllauter Lautstärke durchs Telefon; der Abnehmer hat wie selbstverständlich den Lautsprecher an. Die Öffis sind günstig ( ein Euro pro Tag per Jahreskarte!) und funktionieren meist gut, aber auch hier gibt es kein WLAN. Als mein Bus am »Knotenpunkt der Teppichwelt« vorbeifährt und an der nächsten Station hält, steigen Kontrolleure zu. An der Bushaltestelle studiert ein älterer Mann den Fahrplan mit einer Leselampe.
Wird geflirtet in Wien? Eher weniger. Es wird gearbeitet. Frauen tragen Eheringe, um vor schönen Männern geschützt zu sein. Manche haben die Augenbrauen weggelasert, um sie nachtätowieren zu lassen. Andere haben die Lippen aufgespritzt – viel mehr als in Berlin. Eine Jurastudentin beschwert sich telefonisch bei ihrem Vater, einem Rechtsanwalt, dass sie im Zug vom Flughafen außerhalb der Stadt nachlösen musste, weil sie es nur gerade eben geschafft hatte, den Zug zu erwischen – und sich erschöpft in die erste Klasse gesetzt hatte. Sie hatte aber bloß eine Fahrkarte für die zweite Klasse.
Noch ein Unterschied zu Berlin: In Neukölln beschweren sich alleinerziehende Mütter in den 30ern, dass sie nicht in einem x-beliebigen Wahllokal wählen dürfen, sondern nur in dem, für das sie ausgewiesen sind. Dann ziehen sie mit Kind, Kegel und den Worten ab: »Mich habt ihr für diese Wahl verloren!« In Wien führen solche Beschwerden ältere Damen. Die vermutlich FPÖ wählen.
Wird in Wien denn noch Bier getrunken und Szene gemacht? Durchaus. Aber eher unspektakulär. Gibt es noch spektakuläre Städte? Sollte Tiflis nicht mal kommen? Oder Chisinau? Bukarest? Wien ist ein immer noch kommendes Berlin, das hatten wir so ähnlich ja schon öfter behauptet. Es bleibt die angenehmere Stadt: langsamer, sauberer, ordentlicher, sozialer, unaufgeregter. Es lebt sich gut in Vienna. Wien ist immer eine Reise wert.
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