Schrecken aus der Echo-Kammer

Lee Perry, Begründer von Reggae und Dub, spielte in Berlin

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 4 Min.
Genie und Wahn
Genie und Wahn

Die ersten Takte des DJ-Intros klingen noch erwartungsgemäß: getragener Reggae, pulsierender Tiefbass, die so simple wie geniale Gitarrenmelodie des Klassikers »Chase the Devil«. Doch plötzlich verschwindet die Gitarre, und auf das verbleibende Gerippe von Schlagzeug, Bass und perkussiver Off-Beat-Orgel schleicht sich die zerbrechliche Stimme John Lennons aus dem Beatles-Song »A Day in the Life«. Mit dieser »Mashup« genannten Komplett-Verbindung zweier völlig verschiedener Songs leitete der britische Produzent Adrian Sherwood vergangenen Freitag im Berliner Haus der Kulturen der Welt das Konzert des jamaikanischen Reggae-Veteranen Lee Perry ein.

Es ist kein Zufall, dass am Anfang der Show mit dem erwähnten Mashup eine relativ neue Technik des Remixens, also der Neubearbeitung eines oder mehrerer Musikstücke, stand. Ist doch der legendäre 73-jährige Produzent, Musiker und Sänger Lee Perry schlicht der Pate dieser heute enorm wichtigen Kunstform. Man kann den kleinen, inzwischen zum Teil ergrauten aber stets farbenfroh gekleideten Perry mit Fug und Recht zu einem, wenn nicht dem wichtigsten Produzenten des Reggae und vor allem dessen Sub-Genre Dub erklären. Dadurch wiederum hat er zahllose weitere Spielarten populärer Musik beeinflusst – und das nicht nur produktionstechnisch.

Die heute in sämtlichen Pop-Sparten gängige Praxis des Recycelns von Fetzen bestehenden Klangmaterials in neuem Zusammenhang wäre ohne seine Vorarbeit in den 1970ern undenkbar. Auch die in der aktuellen Club-Musik übliche Art des Arrangierens durch plötzliches Ein- oder Ausschalten von Tonspuren auf monotonem Schlagzeug und Bass hat Perry damals – unter meist katastrophalen Studiobedingungen – erfunden und bis heute geprägt. Von den zahllosen Anleihen, die im Hip-Hop zu hören sind, ganz zu schweigen. Ebenso ging die Aufwertung des Remixes zum eigenen Kunstwerk – heute selbstverständlich – unter Perrys Federführung vonstatten. Mit einem gehörigen Schuss Wahnsinn spürte er in marihuana-geschwängerten Studio-Sessions in den Tonbändern stets noch eine neue, tiefere Ebene auf.

Den Reggae hat er gleich mehrmals umgekrempelt. Erst einmal dadurch, dass er ihn erfunden hat. Zumindest nach Ansicht der meisten Kritiker ist sein »People Funny Boy« von 1968 das erste auf Platte gepresste Stück des Genres. Hier vollzog Perry stilistisch den Übergang von den Vorgängern Ska und Rocksteady. Eine weitere Wegmarke war die Besinnung auf politische und religiöse Botschaften, die er ebenfalls Ende der 60er mit als Erster in die bis dahin inhaltlich seichte Tanzmusik Jamaikas integrierte. Durch weitere stil- und studiomäßige Kniffe formte er maßgeblich den Roots-Reggae, wie man ihn heute kennt: musikalisch sparsam und perkussiv, inhaltlich kämpferisch.

Es ist also kein Wunder, dass sich Perrys Wege 1969 mit denen des damals noch unbekannten Bob Marley kreuzten. Die kurze aber intensive Zusammenarbeit der beiden Genies brachte das Beste hervor, das Marley nach Meinung Vieler in seiner gesamten Karriere geschaffen hat. Der 1981 Verstorbene gilt heute als Inbegriff des Reggae, ist einer der bekanntesten und meistverkauften Künstler überhaupt und eine fast schon als Prophet verehrte Ikone für Protest und Spiritualität. Musikalisch jedoch hat Bob Marley sich den meisten Entwicklungen verwehrt, trat – auf höchstem Niveau natürlich – auf der Stelle. Nicht so Lee Perry, der in seinem 1974 in Kingston/Jamaika geschaffenen Studio »Black Ark« (schwarze Arche) neben der Produktion von zahllosen Klassikern seinen nächsten Geniestreich perfektionierte: den Dub.

Als Dub bezeichnet man eine neue, leere Version eines Stückes, das nun des Gesangs und der melodiösen Elemente beraubt ist. Diese werden bruchstückhaft, gefiltert und mit Echo-Effekten versehen, sporadisch eingeblendet. Vor allem Perry aber beließ es nicht dabei und integrierte die merkwürdigsten Soundfetzen. Nach damaliger Lesart sollte der Dub durch seine teils bedrohlichen Effekte aus der Echokammer die post-kolonialen Ausbeuterstrukturen (»Babylon«) in Angst und Schrecken (»Dread«) versetzen. Als Miterfinder dieses gleichsam meditativen und harten Sounds müssen zwar King Tubby und Augustus Pablo genannt werden, aber Perry war stets eine Spur origineller und musikalischer, sein Album »Super Ape« von 1976 gilt als surrealer Meilenstein des Genres.

Doch Erfolg und damit Paranoia nahmen überhand, und nachdem er jeden Zentimeter des Black-Ark-Studios mit kryptischen Minisymbolen bemalt hatte, brannte Perry es 1979 nieder. Auch seine ohnehin blumigen und rätselhaften Texte (und Garderoben) drifteten von nun an ins geradezu Absurde. Dennoch hat er bis heute nicht aufgehört, Musik zu machen, gerade kam mit »The mighty Upsetter« sein (mindestens) 55. Studioalbum heraus, und für einen 73-Jährigen bewegt er sich erstaunlich beschwingt auf der Bühne. Das Konzert am Freitag begeisterte aber eher durch den historischen Hintergrund und die alten Instrumentalstücke des Meisters, denn durch seinen pausenlosen und teils ziellosen Sprechgesang.

Dennoch sollten keine voreiligen Zweifel an Perrys Zielgerichtetheit aufkommen. Schon in den 70er Jahren, so erzählt der Sänger Junior Delgado in Lloyd Bradleys Standardwerk »Bass Culture«, fragten sich Mitmusiker im Studio oft entnervt, was der Meister mit diesem oder jenem Spleen nun wieder erreichen wollte – bis sie das verblüffende Endergebnis auf Band hörten. »Es heißt immer, Perry ist ein Genie«, so Delgado. »Glauben Sie's!«

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