Der Schmerzpunkt
Die DDR – ein Bild, das sich inzwischen jeder selbst zusammensetzen kann
Als mich meine Eltern Mitte November 1989 in Berlin besuchten, wollte ich ihnen auch den Teil der Stadt zeigen, der für mich »neu hinzugekommen« war. Warum wir ausgerechnet mit der U8 bis Boddinstraße fuhren, in diese etwas triste Gegend, ist mir heute schleierhaft. Wir kamen die Treppe herauf, ich überlegte, in welche Richtung wir gehen sollten, da sagte meine Mutter leichthin einen prophetischen Satz: »Das wird nun alles eins.« – »Meinst du?« – Ich schaute zu meinem Vater, der doch sonst für die Erklärung der Weltlage zuständig war. Der holte Luft und schwieg.
Glaubte ich damals etwa noch an eine DDR, die, mit offenen Grenzen, ihren Bürgern nicht nur soziale Sicherheit (was selbstverständlich schien), sondern auch alle möglichen Freiheiten bieten würde? Ich muss realitätsblind gewesen sein, aber es war so.
Was der Veränderung bedurfte, wusste man doch genau. Man braucht sich heute nur noch mal die Reden auf der Kundgebung vom 4. November durchzulesen. Darin lebte die Vision eines demokratischen Sozialismus. Warum, meinte ich naiverweise, sollte sie nicht durchsetzbar sein? Ich hatte es ja im ND erlebt: Erich Honecker und Joachim Herrmann traten ab, mit ihnen ein Teil der Redaktionsleitung, und obwohl das niemand hatte voraussehen können, war es, als seien wir im Innersten schon vorbereitet gewesen, die Dinge neu zu ordnen, sich zu recken und zu strecken.
Nie mehr nach Weisung, sondern nur nach tiefster eigener Überzeugung handeln. Frei heraus schreiben, was man denkt, und sagen sowieso. Nie mehr Widerrede schlucken, nie mehr sich ducken. Denn es hat Bedrückung gegeben, »Einsicht in die Notwendigkeit«, die Freiheit zu nennen ein Hohn wäre. Wenn Phrasen auf mich niederprasselten, zog ich den Kopf ein, versteckte mich hinter meinen Büchern.
Wie lähmend die Phrasen auf jene wirken mussten, für deren ideologische Anleitung sie gedacht waren, wagte ich mir nicht vorzustellen. Als das Blatt Sprachrohr des obersten Führungszirkels war, hatte es eine Millionenauflage; als keine Staatsmacht mehr dahinter stand, liefen ihm die Leser weg. Wir fühlten uns befreit und bekamen die Quittung für alles, was gewesen war.
Um für die veränderte Gesellschaft fit zu sein, so schien es vielen, bedurfte es anderer Medien, da wurde uns mitunter sogar die »Bild-Zeitung« vorgezogen. Und von denen, die uns die Treue hielten, wurde unser Aufbruch ins Offene auch nicht durchweg honoriert. Während wir uns am Spiel der Meinungen freuten, an der Vielfalt, an der Zuspitzung anderer Standpunkte, durch die eine Debatte ja erst spannend wird, vermissten manche Abonnenten die »Linie«. Als ob wir einer Übereinkunft abtrünnig geworden wären, Verlautbarungen zu bieten, an die man sich halten kann. Als ob wir, als das ZK weg war, an dessen Stelle treten – ja mehr noch –, als ob wir die DDR ersetzen könnten, die sich eben nicht reformierte, sondern sang- und klanglos unterging. Und das war, meine Mutter hat das gespürt, eigentlich schon mit Öffnung der Grenze geschehen.
Seit dem 9. November 1989 waren alle – vielleicht ohnehin utopischen – Hoffnungen auf eine veränderte DDR nur noch Schimäre. Ach, eigentlich viel früher schon: seit die UdSSR-Führung dem Westen signalisierte, nicht mehr auf ihrem Herrschaftsbereich zu bestehen (was unsereins erst später mitbekam). Wäre die DDR sofort auf der Perestroika-Welle mitgeschwommen, statt sich zu widersetzen ... Müßig dieses Wenn und Aber, auch wenn es einem dauernd im Kopf herumgeht. War mit dem Mauerbau bereits die Tatsache besiegelt, dass die DDR mit der BRD – allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz – wirtschaftlich nicht Schritt halten konnte? Auch wenn landauf, landab die Überlegenheit der sozialistischen Produktionsverhältnisse beschworen wurde, die Entwicklung der Produktivkräfte blieb hinter dem Westen zurück. Als Marxisten mussten wir wissen, was das bedeutete.
Vorbei. Die DDR kommt nicht mehr zurück. Seit zwanzig Jahren ist dieser Staat Vergangenheit – und treibt uns heute noch um. Was auch dazu gesagt wird, es findet Gegenrede. Ein Schmerzpunkt im Zentrum des Ich-Gefühls scheint es zu sein. Zumindest im Osten. Im Westen kann man die Arme verschränken: Es sei doch überhaupt ein Wunder gewesen, dass die DDR so lange bestand. Das Unrecht habe schon damit begonnen, dass sie gegründet wurde. Und diejenigen, die das mittrugen, sollen nun mal schön stille sein.
Deutungshoheit nennt man das. So hart, wie es klingt: Das ND als »Organ« hatte sie, nun besitzen sie andere. Wenigstens ist, im Gegensatz zu früher, öffentliche Widerrede erlaubt. Auf dem Markt der Meinungen konkurrieren die Institutionen ideologischer Abrechnung mit allen möglichen Versuchen, DDR-Nostalgie zu verkaufen. Vielleicht treiben sie sich gegenseitig sogar das Publikum in die Arme. Die Parteien übertreffen einander im exorzistischen Bemühen. Da, scheint es, spielen auch die Linken mit, die dennoch im Bezug zur DDR gesehen werden. Die einen glauben ihnen deshalb nicht, die anderen nehmen übel, als sei es ein Treuebruch. Dabei ist es ein für die Linken geradezu unverzichtbares Thema der Auseinandersetzung: Um mühsam, langsam Vorstellungen von einer sozialistischen Bewegung der Zukunft zu entwickeln, muss man sich doch klar werden, woran sozialistische Ideen schon mal gescheitert sind.
Gescheitert. Keine angenehme Lage. Schmerz trifft auf Zorn darüber, was einem abverlangt war und wie man reagierte. Empfindlichkeit auf Hitzigkeit, sich Fehler nicht zu vergeben oder sie sich nicht vorrechnen zu lassen. Trotz ruft Trotz hervor. »Das wird nun alles eins«, sagte meine Mutter. Aber für ein Zusammenwachsen hätte man wirklich auf ein neues Deutschland zusteuern müssen. Was nicht mal seitens der DDR-Bürger Mehrheitswille war, die so schnell wie möglich zur BRD gehören wollten, um jenes besseren Lebens teilhaftig zu werden, das sie da vermuteten.
Die Stärkeren haben gewonnen. Dass sie sich deshalb für die Besseren halten, ist verständlich, aber dem Empfinden vieler Ostdeutscher entspricht es nicht. Die sehen, was heute alles menschenfeindlich ist und absurd – man braucht sich nur die Hartz IV-Sätze im Vergleich zu den Abfindungen gescheiterter Manager anzusehen. Polemik gegen die DDR weckt da den Verdacht, BRD-Gegenwart solle gerechtfertigt werden. Wer sich in die Ecke gestellt fühlt, dem erscheint deutlich geäußerte Kritik an der DDR leicht als Diffamierung der eigenen Person. Und die wird zurückgewiesen – ohne die mindeste Bereitschaft, eine andere Erfahrung, eine andere Meinung auch nur zu dulden, geschweige denn anzuerkennen. Da kann der Ton mancher Leserbriefe ans ND durchaus erschrecken.
Aber so wie es für das Entstehen der DDR Gründe gab, gibt es sie für ihr Scheitern auch. Dieser Staat hatte äußere Feinde und Freunde mit eigenen Interessen, befand sich mit der BRD stellvertretend für die Großmächte im Kalten Krieg. Doch mit all dem verband sich auch eine historische Chance. Die ist vertan, vielleicht auf lange Zeit. Wir hatten einen Anspruch, dem wir nicht gerecht geworden sind, und können das mit Verweis auf die Mängel der BRD nicht beiseite wischen. Wäre der Sozialismus so anziehend gewesen, wie er zu sein versprach, sähe es in der Welt heute anders aus.
Es gibt Verantwortlichkeit, Schuld. Sicher sind sie unterschiedlich verteilt. Nachdenken darüber nützt zunächst nur einem selbst. Anstrengend ist es, so zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her zu pendeln. Sich je nach Alter nur am Heute oder am Gestern festzuhalten, mag bequemer sein. Ohnehin ist Erinnerung nichts Festgefügtes. Ob hell oder dunkel gefärbt – jeder kann sich im zeitlichen Abstand sein Bild von der DDR selbst zusammensetzen und eine Mauer darum ziehen: Wehe, ihr greift mich an!
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