Grenzen des Sozialismus
Verlorene Errungenschaften und erschossene Flüchtlinge – eine unzeitgemäße Betrachtung
Der Sommer des Jahres 1971 war nicht nur meteorologisch heiß. Es war die Zeit, als sich die militärische Sicherung der DDR-Staatsgrenzen zu Westberlin und zur BRD – vulgo: Mauerbau – zum zehnten Mal jährte. In der Grenzkompanie im Ostharz, wo ich nach dem Abschluss der Unteroffiziersschule als Gruppenführer diente, war »verstärkte Grenzsicherung« befohlen. Es wurde mit Provokationen und Grenzverletzungen seitens des Gegners, also der Bundesrepublik, gerechnet.
Am 22. Juni 1971 gegen 18.30 Uhr wurde im Abschnitt unserer Kompanie der BRD-Bürger Hans-Erich M. (47) als Grenzverletzer aus Richtung Westen durch ein Postenpaar unter Abgabe eines Warnschusses festgenommen. Während der Durchsuchung setzte sich M. zur Wehr, stieß den durchsuchenden Posten zu Boden und griff den sichernden Postenführer an. Dieser gab mit seiner Maschinenpistole sofort einen gezielten Feuerstoß von vier Schuss aus etwa zwei Meter Entfernung ab und traf M. tödlich.
Die detaillierte Schilderung fand ich 20 Jahre später in dem Buch »Opfer der Mauer« von Werner Filmer und Heribert Schwan dokumentiert – als Geheime Verschlusssache des Kommandos der Grenztruppen und als Aktennotiz für Erich Honecker.
Der Postenführer bekam damals – wie in solchen Fällen üblich – Sonderurlaub, das Leistungsabzeichen der Grenztruppen plus Geldprämie sowie das Angebot, in eine andere Einheit versetzt zu werden. Letzteres schlug er aus. Eine psychologische Betreuung war nicht vorgesehen.
In der Folgezeit hatte ich zu dem Gefreiten ein »normales« Verhältnis. Über das »Vorkommnis« sprachen wir nicht. Bisweilen ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass er mir etwas voraushatte, was mir in den knapp zweieinhalb Jahren verbleibender Dienstzeit möglicherweise noch bevorstand: das Töten eines Menschen. Es blieb mir erspart.
Das alles ist jetzt über 38 Jahre her, 10 Jahre mehr, als die Mauer insgesamt stand. Die Prozesse gegen sogenannte Mauerschützen und Politprominenz der DDR sind vorbei, die verhängten Haftstrafen verbüßt. Die Meinung, dass es sich dabei im Wesentlichen um Siegerjustiz handelte, ist durchaus begründet und wird nicht nur von verurteilten einstigen SED-Größen oder notorisch Gestrigen, sondern auch von Juristen geteilt. Es bleiben die verhärteten Fronten in der Debatte um Existenz oder Nichtexistenz eines »Schießbefehls«, um Normalität oder Abartigkeit der DDR-Grenzsicherung.
Und es bleiben die Toten. Menschen, die – vor allem – von 1961 bis 1989 auf der DDR-Seite der deutsch-deutschen Grenze erschossen wurden oder auf andere gewaltsame Weise ums Leben kamen. Unter ihnen Grenzsoldaten und Westeindringlinge wie Hans-Erich M. – die meisten jedoch Menschen auf der Flucht Richtung Westen. Die Zahl der Toten bewegt sich von 270 (Berliner Staatsanwaltschaft) über 421 (Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität) bis zu 1347 mit steigender Tendenz und sinkender Seriosität (Arbeitsgemeinschaft 13. August). Zahlen, die es mittlerweile gerade einmal zur Wiederkehr des Mauerbau-Datums in die Medien schaffen, wie dieser Tage geschehen. Totenzahlen – tote Zahlen?
Es gibt neue, aktuellere, die politische Öffentlichkeit stärker bewegende Totenzahlen: in Afghanistan »gefallene« Bundeswehrangehörige, von deutschen Soldaten dort getötete Zivilisten. Sogar von einem »Schießbefehl« des Verteidigungsministers ist die Rede ...
Dass gerade im propagandistisch aufgeladenen 20. Jahr des Mauerfalls viele ehemalige DDR-Bürger sich der Errungenschaften ihres einstigen Staates besinnen, ist angesichts bundesdeutscher Krisenrealität ein psychologisch-logischer Vorgang, dem nichts Überraschendes anhaftet. Erstaunlich ist ebenso wenig, dass dabei negative, das erinnerte Gesamtbild eintrübende Seiten verdrängt respektive relativiert werden. Das fällt umso leichter, als die meisten dieser Seiten bereits in der DDR weitestgehend beiseite geschoben wurden, weil sie nicht zur großen Idee vom Aufbau des Sozialismus passten – so wie die Außenseiter, die abseits Stehenden.
»Sag mir, wo du stehst, und welchen Weg du gehst!«, lautete die apodiktische Aufforderung der FDJ-Singegruppe »Oktoberklub«. »Du kannst nicht bei uns und bei ihnen genießen ...« Und die krassesten Außenseiter waren zweifellos jene, die selbst die Gefährdung des eigenen Lebens in Kauf nahmen, weil sie allen staatlichen Fürsorglichkeiten zu Trotz und Hohn nicht mehr »bei uns«, sondern nur noch »bei ihnen« genießen wollten. Sie wurden zu Grenzverletzern, zu Kriminellen, die – laut tagtäglich vielhundertfach an die Grenzposten erteiltem Einsatzbefehl – »festzunehmen oder zu vernichten« waren. Man kann das irritierende, im Dienstvorschriftendeutsch eher ungewöhnliche Wort »vernichten« durch den weniger martialisch-pathetischen Begriff »erschießen« ersetzen und dann darüber sinnieren, ob es sich hier um einen »Schießbefehl« handelte.
Gewiss: Für den »normalen« Bürger war das keine Bedrohung. Denn nur, wer sich illegal ins Grenzgebiet und damit in die potenziell tödliche Gefahr begab, konnte darin auch umkommen.
Schließlich war das Grenzregime der DDR ab dem 13. August 1961 vor allem deshalb errichtet worden, um die immer stärker anschwellende Fluchtbewegung Richtung Westen zu stoppen, um das demografische und wirtschaftliche Ausbluten der DDR und damit ihren Untergang zu verhindern. Ökonomische Entwicklung und der Ausbau eines Systems sozialer Leistungen waren unter den Bedingungen der Auseinandersetzung Sozialismus-Kapitalismus nur möglich bei einer strikt abgeriegelten Westgrenze.
Allerdings gab es ein nicht unwesentliches, die humanistisch-ideale Selbstdarstellung des sozialistischen Staates in ihrem Kern berührendes Problem: Der einkalkulierte, billigend in Kauf genommene Tod von Flüchtlingen war eine von der politischen Führung nie ernsthaft in Frage gestellte Prämisse für das Funktionieren der militärisch organisierten Grenzsicherung und damit für den Gesamterhalt des Staates.
Zwar wurden – besonders in der zweiten Hälfte der 80er Jahre – Bemühungen unternommen, den Waffeneinsatz gegen Flüchtlinge auf ein Mindestmaß zu beschränken, so durch eine möglichst effektive Hinterlandsicherung. Doch auch die 1987 verfügte Streichung von »vernichten« in der sogenannten Vergatterungsformel für die Grenzposten änderte letztlich nichts daran, dass die Gefahr für Leib und Leben die wichtigste existenzielle Abschreckung von Fluchtwilligen blieb. Denn nach »oder« hieß es jetzt: »... ihr Grenzdurchbruch ist durch Schusswaffengebrauch zu verhindern«.
Nikolai Ostrowskis (»Wie der Stahl gehärtet wurde«) in der DDR oft und gern zitiertes Diktum, das Wertvollste, was der Mensch besitze, sei sein Leben, galt somit an ihrer Westgrenze nur mit Einschränkungen. Zudem wurde vielen jungen Männern, die den Tod eines Menschen auf ihr Gewissen geladen hatten, damit auch das eigene Leben zerstört.
Man kann es drehen und wenden: Das Erschießen von Flüchtlingen war mit dem 13. August 1961 immanenter Teil des DDR-Sozialismus geworden.
Aus heutiger Sicht verwundert es nicht, dass der Begriff »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« einst als konterrevolutionäre Losung diffamiert wurde: Denn die Toten an der Grenze und die nach politischer Wende und Anschluss an die BRD verlorenen Werte, die jetzt vor allem als soziale Sicherheit erinnert werden, waren miteinander verbunden, ja verkettet. Eine fatale Verkettung, die fast bis zum Ende ungelöst blieb (der letzte erschossene Flüchtling starb am 6. Februar 1989). Zu DDR-Zeiten war sie unter DDR-Bürgern kaum ein Thema. Auch heute spielt sie in den (positiven) Rückblenden keine Rolle. Neben Unbehagen über diese Seite der eigenen Geschichte und neben Unmut wegen der angemaßten Deutungshoheit von Knabe, Birthler et al. in dieser Frage liegt solcher Indifferenz vermutlich auch die (ver-)störende Erkenntnis zugrunde, dass nicht nur die abgeriegelten Grenzen ein prekärer Preis für die Errungenschaften des DDR-Sozialismus waren. Sondern auch die Menschen, die an diesen Grenzen den Tod fanden. Ein entsetzlicher, ein zu hoher Preis.
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