Kinder, wie das Land vergeht ...
In der Fotoausstellung »Ostzeit« im Berliner Haus der Kulturen der Welt gibt es mehr zu entdecken als Schwarz-Weiß-Bilder von der DDR
Ostkreuz, ein Berliner S-Bahnhof, Baustelle in laufendem Betrieb. Neulich habe ich dort meine Familie in die Ring-Bahn gesetzt, Richtung Fernbahhof Südkreuz. Berufsverkehr, Menschengewimmel, drei flüchtige Küsse, das Abfahrtssignal, vier verstörte Kinderaugen, der ausfahrende Zug. Beim Verlassen des Bahnhofs entdeckte ich diese bunt bemalte Wand aus Mauersteinen, darauf das Wort »Abschied« und: »Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt./ Wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnes/ grausames Etwas, das ein Schönverbundnes/ noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.« Rilke am Ostkreuz.
Ostkreuz, das ist auch der Name einer Foto-Agentur, die 1990 von sieben bekannten DDR-Fotografen gegründet wurde. Mit der Verwirklichung des Anspruchs, »ihre Arbeit in der Tradition der Autorenfotografie weiterzuführen, die mehr möchte als das ›schöne Bild‹«, hat Ostkreuz sich einen hervorragenden Namen gemacht. Mittlerweile gilt die Agentur als erfolgreichste ihrer Art in ganz Deutschland, zählt achtzehn Mitglieder und betreibt eine eigene Schule für Fotografie.
Mit der Ausstellung »Ostzeit – Geschichten aus einem vergangenen Land« im Berliner »Haus der Kulturen der Welt« erinnern vier der Ostkreuz-Gründer, Werner und Ute Mahler, Sibylle Bergemann und Harald Hauswald, an das Land ihrer Herkunft: die DDR. Der fünfte im Bunde ist Maurice Weiss, geboren in Frankreich, Studium in Dortmund, Ostkreuz-Fotograf seit 1995. Weiss kam 1989, 25-jährig, unmittelbar nach dem Mauerfall in den deutschen Osten und hielt in den darauffolgenden Monaten eindrucksvolle Augenblicke des Umbruchs mit seiner Kamera fest.
Bahnhof und Fotografie. Wo sonst treffen Statik und Bewegung so harsch aufeinander? Wo noch wirken Stillstand und Wandel gleichwohl so einträchtig zusammen? Der Bahnhof: ein Ort, der in starrer Unbeweglichkeit dem Rausch der Geschwindigkeit huldigt. Fotografien: eingefrorene Zeit, Zeugnisse des schon nicht mehr Wirklichen.
An einer Aufstellwand hängen Bilder aus Werner Mahlers Langzeitdokumentation »Die Abiturienten«. Mahler fotografierte 1978 die Abschlussklasse einer Oranienburger Schule und suchte bis in die Gegenwart hinein einige der damaligen Abiturienten regelmäßig wieder auf, um Bilder von ihnen zu machen. Die Arbeiten – wie alle in dieser Ausstellung in Schwarz-Weiß – erzählen von menschlicher Reifung und vom Altern. Aber – auch von dem, was bleibt. Hans-Jürgen D. 1977: ein aufrechter Junge, 1984: ein lässiger Lümmel, 1989: ein müder Schlaks, 1996: ein gestandener Mann, 2003: ein gesetzter Herr, 2009: ein jugendlicher Senior, wieder wie im Aufbruch begriffen. Aber immer dieselben Augen: stet, verschmitzt. Und immer dieselben Lippen: locker verschlossen, lächelnd in heiterem Ernst.
In Mahlers Langzeitbeobachtung wird der historische Bruch des Jahres 1989 stillschweigend überbrückt: Die Zeiten vergehen, es bleibt das Ich.
Wie irreal wirken dagegen die Bilder einer anderen Serie, die derselbe Fotograf 1977 für seine Diplomarbeit im thüringischen Dorf Berka aufnahm. Was aus den Menschen geworden ist, die wir hier sehen – beim Kindertanz in der Sporthalle, beim ersten Nordhäuser Doppelkorn zur Jugendweihe, bei mühsamer Arbeit auf dem Feld und ausgelassenem Feierabend auf dem Hof –, wir wissen es nicht. Aber es ist unvorstellbar, dass diese Leute heute lebten.
Allein die Szene vom »Tanz auf dem Saal der Dorfkneipe« lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei den Abgebildeten um Figuren aus einer entrückten Epoche handelt. Es sind nicht die symmetrisch in den Raum hängenden Girlanden, nicht die seltsam gemusterten Tapeten und Gardinen, nicht die hellen Deckenleuchten, die das Befremden auslösen, es sind auch nicht die längst wieder modernen Frisuren und Kleider. Es ist die Stimmung, die man sich unmöglich auf einem ähnlichen Fest im Heute vorstellen kann. Es ist diese verbissene Ausgelassenheit, die im Gegensatz zur betont gelangweilten Coolness unserer Tage steht.
Das gab's nur zu »Ostzeiten«, könnte man sagen. Aber was für ein seltsames Wort ist das, das sich da in unserer Sprache festgesetzt hat und nun bedeutungsvoll auch im Titel der Ausstellung verbirgt? Der Osten, eine Himmelsrichtung: Wer ostwärts blickt, steht stets im Westen, überall. Gekoppelt mit der Zeit vollzieht der Osten den wundersamen Wandel von einer geografischen in eine historische Dimension. Ostwärts heißt dann: rückwärts. Wie verwirrend es ist, Eigenheiten von Raum und Zeit zu vertauschen, zeigt deutlicher noch der Untertitel der Ausstellung: »Geschichten aus einem vergangenen Land«. Kinder, wie das Land vergeht!
Gelegentlich sind die Ostdeutschen nach der Auflösung der DDR als Fremde im eigenen Land bezeichnet worden, als Migranten, über Nacht heimatlos geworden, ohne einen Schritt aus dem Haus zu tun. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich der Westen über den Osten geschoben, das Heute vor das Gestern. Es gibt keinen Weg zurück. Nur Erinnerungen, aber die werden trüber, unschärfer von Stunde zu Stunde.
Eine Reise an den Ort ihrer Herkunft ist den ostdeutschen »Migranten« verwehrt, sie sind ja schon (noch) da. Bleibt die Reise in der Zeit. Ausstellungsbesucher, die in der DDR gelebt haben, werden sich beim Betrachten der Bilder schwerlich eines gewissen Heimwehs erwehren können – selbst dann nicht, wenn sie froh sind, dass das alles vorbei ist. Betrachtern, die die DDR nicht von innen kennen, vermitteln die Fotos hingegen allenfalls eine Ahnung vom Leben in diesem Land. Wer glaubt, Fotografien seien unzweifelhafte Abbilder der Wirklichkeit, der irrt gewaltig. Die Wahrheit liegt auch hier im Auge des Betrachters.
Am deutlichsten wird das an den Bildern von Harald Hauswald. Der Fotograf, dessen Arbeiten zum Teil in westlichen Magazinen publiziert worden sind, war dem Staat ein Dorn im Auge. Die »Wirklichkeit«, die er auf seinen Fotos zeigte, entsprach nicht dem Selbstbild der DDR. Punker im Hinterhof, Dissidenten bei Lesungen in Privatwohnungen, Ausreisewillige beim Abschieds-Sit-in – solche Darstellungen müssen wie hässliche Warzen im schönen Antlitz des sozialistischen Staates wahrgenommen worden sein, die tunlichst zu entfernen sind. Hauswald wurde observiert. Mit dem Wortlaut einiger der lächerlich akribischen Protokolle seiner Überwachung ist in der Ausstellung eine Video-Präsentation seiner Bilder unterlegt. Der in einer Raumecke versteckte Monitor ist, dies nebenbei, das einzige »multimediale« Element der sich ganz auf die Fotos konzentrierenden Schau.
Hauswald verstand sich, stärker noch als seine Kollegen, als Fotograf des Alltags. Sein Alltag freilich, der jener eines langhaarigen, bärtigen, »freien« Fotografen auf Motivsuche war, dürfte sich erheblich von dem eines staatstragenden Bürokraten unterschieden haben. Es ist bezeichnend, dass der auf Hauswald (Deckname »Radfahrer«) angesetzte Spitzel zuweilen zum Kunstkritiker avanciert, der auf die Rafinesse des Fotografen beim Entstellen der sozialistischen Realität verweist. Durch geschickte Perspektivwahl erwecke Hauswald den Eindruck der Vereinzelung von Menschen, durch das geduldige Abpassen günstiger Momente täusche er falsche Tatsachen vor.
Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Auch was ein Objektiv einfängt, ist subjektiv.
»Alltag« – so der Titel einer der Hauswald-Serien in der »Ostzeit«- Ausstellung. Die Aufnahmen, heißt es im Begleittext, »sind auf der Straße entstanden, in Berlin, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, ohne einen Auftrag, ohne Zeitdruck, einfach beim Gehen.« Sich an keinem anderen Zweck zu orientieren als dem eigenen Interesse und Anspruch, ist Wesensmerkmal der Autorenfotografie. Harald Hauswald ist ein Meister dieses Genres.
Auf seinen »Alltags«-Aufnahmen sind keineswegs jene offensichtlich System-Unkonformen abgebildet, die er bei anderer Gelegenheit fotografiert hat. Vielmehr begegnen wir hier Kindern, die vor einer fensterlosen Hauswand eine Sperrmüllhalde zum Spielplatz umfunktionieren. In Reih und Glied geparkten Kinderwagen vor einer Warenhausauslage. Auf einem Zaunpfosten am Park Karten spielenden Männern. Einem Pferdefuhrwerk samt Kutscher, flankiert von bröckelnden Altbaufassaden, abgestellten Trabis und Wartburgs. Einer Schlange aus wartenden Bürgern vorm »Delikat«. Trinkern in der Kneipe. Schnatternden Rentnerinnen vor Konopkes Imbiss. Einer Kindergartengruppe im noch unfertigen Plattenbaugebiet ...
Auf den meisten Hauswald-Bildern fehlen offizielle Symbole, die eindeutig auf die DDR hinweisen würden. Trotzdem erkennt man sofort, dass sie nirgendwo anders aufgenommen worden sein können. Es spricht aus ihnen ein inniges Gespür für das Spezifische.
Sehr offensichtlich ist die DDR-Zuordnung in Ute Mahlers Reihe »1. Mai, Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse«. Bei der Mai-Demonstration 1980 hat die Fotografin sich unterhalb der Tribüne postiert, auf der die Staatsführung das herbeizitierte Volk an sich vorbeiparadieren ließ. Gesten und Gesichter der Demonstranten, festgehalten just in dem Moment, an dem sie der Obrigkeit ins Auge sehen, sprechen Bände. Der Jubel der stolzen Pioniere kontrastiert mit der nüchternen Skepsis Älterer; die dankbare Bewunderung des Greises, der wahrlich schlimmere Zeiten erlebt hat, mit der unverhohlenen Verachtung mancher, die zu jung sind, um etwas anderes zu kennen als die DDR.
Die Gesichter sprechen Bände über die Kluft zwischen den erklärten Idealen des Staates und den Lebenserfahrungen und -wünschen vieler seiner Bürger. Man sagt, in der Literatur der DDR sei es darauf angekommen, zwischen den Zeilen zu schreiben und zu lesen. Ute Mahlers 1.-Mai-Fotos bilden vordergründig eine Manifestation der Stärke des sozialistischen Staates ab. Dabei kann man aus ihnen, quasi zwischen den Zeilen, schon dessen nahendes Ende ablesen.
Das Hintergründige, gar nicht Sichtbare, verleiht vielen der ausgestellten Fotografien Einzigartigkeit und Größe. Nicht nur die Entstehung von Ludwig Engelhardts Marx-Engels-Monument ist in Sibylle Bergemanns Serie »Das Denkmal« dokumentiert, sondern eben auch das irrwitzige Vorhaben, eine Idee zementieren zu wollen. Nicht nur Szenen einer bizarren Tanzveranstaltung sind auf Bergemanns Fotos aus »Clärchens Ballhaus« festgehalten, sondern eben auch das Leiden an Einsamkeit und der verzehrende Wunsch nach ein paar Takten Glück.
Die »Ostzeiten« sind vorbei und kommen nicht wieder – wohin man sich auch wendet. Höchste Zeit also, Abschied zu nehmen. Am Ostkreuz (oder anderswo) in den Zug zu steigen und weiterzufahren. Wer die Ring-Bahn nimmt und nicht aussteigt, muss nur aus dem Fenster sehen, um irgendwann zu merken, dass sie Kreise zieht.
Bis 13. Semptember, Mi-Mo 11-19 Uhr, Katalog (Verlag Hatje Cantz, 39,80 €).
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.