Mit fremden Augen
Christine Wolter: »Traum Berlin Ost«
Der Flaneur, die Flaneurin, eine beinahe schon ausgestorbene Form des Stadtgängers: ein Beobachter der feinen, leisen Art. Die Stadt zu besichtigen, in der man einst zu Hause war, bringt Überraschendes und weicht auch Brüchen nicht aus. Man schaut sie an mit verändertem Blick, mit wachem Interesse, doch ohne Nostalgie. Da geht eine noch einmal die alten Wege, blickt mit den Augen der Erinnerung, auch des Wiederentdeckens – und was sie da sieht, ist für den Leser verführerisch genug.
Christine Wolter, die seit 1978 in Mailand lebt, hat ein Stück ihres Herzens zurückgelassen in der Stadt ihres Romanistikstudiums an der Humboldt-Universität, der Stadt der ersten Liebe und vieler Kunsterfahrungen. In ihren frühen Büchern hat sie uns Italien ans Herz gelegt, als wir noch nicht selber dorthin reisen konnten: »Meine italienische Reise« (1973), »Juni in Sizilien« (1977), »Straße der Stunden« (1987). Italien muss schön sein – dieses Versprechen hat sie bekannt gemacht. Berühmt jedoch wurde sie mit dem Roman »Die Alleinseglerin« (1982, von der DEFA verfilmt).
Diesmal nun ist die Alleinseglerin in Berlin unterwegs, manchmal auch mit ihrem Liebsten aus Italien, dem sie Friedrichshagen am Müggelsee zeigt, wo der Tunnel unter der Spree Verblüffung hervorruft. Wo aber auch die alte Malerin lebte, Charlotte E. Pauly (1886-1981), die die Erzählerin während ihrer Studentenzeit zu einem Faschingsball ins Bürgerbräu mitnahm. Träume und deutlich mit Händen zu Greifendes ziehen Christine Wolter in ihren, den östlichen Teil der Stadt, der sich längst nicht für sie erledigt hat. Die halb verfallenen Villen, die zugewachsenen Gärten am Stadtrand singen beinahe vergessene Lieder von damals, erzählen von den Freunden, die in einem früheren Leben zurückblieben. Doch die breite Allee, an der ihr Vater, der Architekt, zu Beginn der 50er Jahre mitbaute, zieht sie zurück ins Stadtzentrum. Und hat nicht die Prachtstraße Unter den Linden in drei verschiedenen Phasen ihres Lebens sehr unterschiedliche Emotionen ausgelöst, deren sie sich versichert, weil sie erst zusammen ein Ganzes bilden. Wunderschöne Porträts sind da: so zu Karl Mickel, dem Orpheus am Ufer des Müggelsees, der viel zu früh hinunter musste, »und oben weinten die Eurydiken«. Oder erst Fontane, dem sie in der Stadt immer wieder begegnet. Nicht zuletzt er hat ihr Wege gewiesen.
Im Verlag Das Arsenal, wo auch das Werk des legendären Berlin-Flaneurs der 20er Jahre, Franz Hessel, gepflegt wird, hat Christine Wolter seit Jahren ihre Berliner Dependance. Das neue Buch, geschmückt mit einer Titelzeichnung des Malers Dieter Goltzsche, macht Lust, ihren Wegen und Traumorten zu folgen. Mit fremden Augen erst erkennt man zuweilen das Besondere, Unverwechselbare der eigenen vertrauten Welt.
Christine Wolter: Traum Berlin Ost, Verlag Das Arsenal. 192 S., engl. Broschur, 19,80 €.
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