Lob für die Heulsuse
Forscher behaupten: Weinen ist gut für Augen und Seele
Jeden Tag produziert ein Mensch einen Fingerhut voll Tränen. Das macht im Laufe eines Lebens etwa 80 Liter und würde ausreichen, eine Badewanne zu füllen. Der physiologische Nutzen dieser Augenwaschung liegt auf der Hand: Tränen schützen die Hornhaut vor dem Austrocknen. Sie spülen, wenn nötig, kleine Fremdkörper aus dem Auge und enthalten außerdem Abwehrstoffe gegen Bakterien. Ist die Tränenflüssigkeit verbraucht, wird sie über spezielle Kanäle in den inneren Augenwinkeln in die Nasenhöhle abgeführt.
Nur wenn unser Körper zu viele Tränen produziert, laufen die Kanäle über und dicke Tropfen rinnen die Wangen hinunter: Wir weinen. Die Frage, warum Menschen dies tun, wird von Wissenschaftlern unterschiedlich beantwortet. Zumal jemand, der weint, nicht unbedingt traurig sein muss. Auch Schmerz, Freude, Glück, Wut, Mitgefühl oder Machtlosigkeit können dazu führen, dass wir anfangen zu heulen.
Der amerikanische Biochemiker William Frey hat die Tränenflüssigkeit genauer untersucht. Dabei stellte er fest, dass die chemische Zusammensetzung von »echten« emotionalen Tränen eine andere ist als die von Reflextränen, die etwa beim Zwiebelschneiden entstehen. So enthalten »echte« Tränen neben Wasser, Fett und Salzen auch Eiweißstoffe, die Menschen unglücklich machen. Diese Stoffe, die sich beispielsweise bilden, wenn wir traurig oder wütend sind, werden beim Weinen offenbar aus dem Körper gespült. »Das legt den Schluss nahe«, so Frey, »dass Menschen, die ihren Gefühlen und Tränen freien Lauf lassen, damit zugleich seelische und körperliche Anspannungen lösen und Stresssymptome abbauen.« Dagegen könnten unterdrückte Tränen leicht zu Kopfschmerzen und Kreislaufbeschwerden führen.
Um diese sogenannte Katharsis-Theorie empirisch zu überprüfen, haben der niederländische Psychologe Ad Vingerhoets und seine Kollegen die »Heulerlebnisse« von 5000 Personen gründlich analysiert. Ergebnis: Die meisten fühlten sich nach dem Tränenstrom erleichtert. Aber immerhin 10 Prozent der Probanden erklärten, es sei ihnen im Anschluss daran deutlich schlechter gegangen. Wie ist das zu erklären? Vingerhoets fand heraus, dass bei vielen Probanden das Weinen nur dann einen positiven Effekt hatte, wenn eine zweite Person anwesend war, die ihnen Trost spendete. Wer dagegen allein vor sich hinflennte, fühlte sich hinterher genauso mies wie vorher.
Demnach vergießen wir Tränen (auch) zu dem Zweck, bei anderen Personen Mitleid zu erregen und sie damit zu veranlassen, uns zu helfen. Danach erst geht es uns besser. Auf ähnliche Weise könnte der Mechanismus des Weinens in der Evolution entstanden sein, meint der israelische Biologe Oren Hasson: »Schon unsere frühen Vorfahren waren vermutlich bestrebt, durch Tränen andere Menschen von einem aggressiven Tun abzuhalten und ihnen etwas mehr Mitgefühl zu entlocken.« Ein solches Verhalten wiederum stärkte den Zusammenhalt der Gruppe und verschaffte dieser im Konkurrenzkampf mit anderen Gruppen, in denen es aggressiver zuging, einen nicht zu unterschätzenden Vorteil.
Bleibt die Frage, warum das Weinen als Art der nonverbalen Kommunikation nicht auch im Tierreich verbreitet ist. Bis heute jedoch haben Wissenschaftler nicht nachweisen können, dass Tiere in einer emotionalen Notlage Tränen vergießen. Zugegeben, hin und wieder hört man von Elefanten, die nach dem Tod eines Artgenossen angefangen hätten zu weinen. Solche Berichte sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, schließlich kann niemand in die Dickhäuter hineinsehen. Und auch die sprichwörtlichen Krokodilstränen taugen nicht als Gegenbeweis. Zwar lässt ein Krokodil Tränen fließen, wenn es das Maul aufreißt, um seine Beute zu verschlingen.
Doch das geschieht nicht aus Mitleid mit der von ihm geschundenen Kreatur, sondern weil das Reptil, während es frisst, automatisch auf seine Tränendrüsen drückt.
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