Suppe ist für jeden da ...

Klassenkampf anno 2002: Ein Vormittag bei den Warnstreiks der Metaller in Niedersachsen

  • Tom Strohschneider, Hannover
  • Lesedauer: 8 Min.
Dieser Mittwoch ist nicht gerade ein warmer Apriltag, aber auch kein schlechter. Über dem Lindener Hafen im Westen Hannovers müht sich die Morgensonne redlich. Noch aber liegt Dunst über dem Industriegebiet und Stille. Der Parkplatz beim Fahrzeugteilehersteller Wabco füllt sich Auto um Auto. Auf der anderen Straßenseite ragen hinter alten Mauern Kräne und Verladebrücken in den Himmel. Von einem Streik ist weit und breit nichts zu sehen. Wäre da nicht Hermann Staade.
Der 66-Jährige, dem die rote IG-Metall-Mütze ein wenig schief auf dem Kopf sitzt, wartet. Was soll er auch anderes tun. Die Arbeit hat Hermann Staade schon vor ein paar Jahren niedergelegt, endgültig. Irgendwann war es eben vorbei »im Leichtmetall« bei den Vereinigten Aluminiumwerken. Nur die Pünktlichkeit ist geblieben. Und zu einem Warnstreik verspätet man sich schließlich nicht. Schon gar nicht als einer aus der Seniorengruppe der Hannoveraner IG Metall.
Dann kommen auch die jüngeren Kollegen. Für Katrin Dombrowski beginnt der Warnstreik bei Wabco erst einmal mit Arbeit. Fahnen hertragen, Mützen und natürlich Trillerpfeifen verteilen. Denn es soll laut werden, mächtig laut. Immerhin geht es um 6,5 Prozent mehr Lohn. Und außerdem hilft der Krach auch ein wenig gegen die Angst. 500 Stellen stehen in dem Unternehmen auf der Kippe, ein Teil der Produktion soll nach Polen verlagert werden. Für einen Arbeitskampf ist das nicht die beste Voraussetzung. Doch langsam wird es voll vor dem Tor.
Kurz nach neun klappt es dann auch noch mit der Sonne. Und das gleich hundertfach. Zuerst auf den Fahnen der IG Metall, dann auf Dutzenden Gewerkschaftsmützen und schließlich schaffen es ein paar richtige Strahlen an den Lindener Hafen.

Für manchen ist es zum ersten Mal ein »großer« Streik...

Für Andreas Schaper ist es »der erste große Streik«. Vor ein oder zwei Jahren waren die Lehrlinge bei Wabco auch schon mal auf der Straße. »Aber nur für eine halbe Stunde.« Heute ist den ganzen Vormittag Streik-Schicht. »Schließlich geht es ja auch um was«, murmelt der 18-Jährige. Für die Azubis sogar um eine ganze Menge. Schließlich steht der »Mechatroniker« - eine Art Zwitter aus Mechaniker und Elektroniker - nicht zuletzt für seine Zukunft vor dem Werk. Ist die Ausbildung vorbei, garantiert das Unternehmen dank einer Gewerkschafts-Vereinbarung eine Übernahme - allerdings nur für zwölf Monate. Höhere Löhne, ist sich Schaper sicher, sind gut für die Konjunktur. Und was gut für die Konjunktur ist, kann nicht schlecht sein für die Beschäftigten.
Von denen warten bei Wabco inzwischen ein paar Hundert auf das Startzeichen. Die Frage nach noch mehr Trillerpfeifen geht fast im Getöse unter. »Schmeiß doch nen Stein«, frotzeln die Kollegen. Gelächter auf allen Seiten. Der ordentlich gekleidete Herr vom Personalwesen bleibt dagegen ziemlich ernst. Und lieber hinter der Glastür des Bürotraktes. »Ich stehe ja gewissermaßen auf der Arbeitgeberseite«, versucht er eine Erklärung. Irgendwie sei die Forderung der Kollegen zwar berechtigt. Ob es aber wirklich 6,5 Prozent sein sollen? »Das müssen andere entscheiden, da ist dann auch ein Warnstreik legitim.« Aber jede Minute sei schlecht für den Betrieb, »schließlich wollen die Kunden Teile sehen«.
Das sehen die Kollegen in den Blaumännern ein wenig anders - nicht nur bei Wabco. Kurz vor zehn fährt am Lindener Hafen nichts mehr. Ein paar hundert Meter weiter kriecht ein rotes Häuflein auf die Straße, die Kollegen der Firma Körting. Dann biegt noch ein Zug um die Ecke, und ein weiterer. Insgesamt werden es an diesem Tag gut 30 Betriebe sein, die sich in Hannover am Warnstreik beteiligen, 10000 Beschäftigte in ganz Niedersachsen.
Im zweitgrößten Bundesland hängt zwischen Cuxhaven und Hannoversch Münden vieles an der Metallindustrie. Doppelt so viele Arbeitsplätze wie im Bundesdurchschnitt haben mit Autos zu tun: Volkswagen, Varta, Conti, Keilriemen, Radios und eben die Bremsen von Wabco. Wo viel Industrie ist, sind aber auch viele Sorgen - vor allem wenn es kriselt. Dann heißt es »betriebswirtschaftlich sinnvolle Lösungen finden«. Doch einfach so umsteigen, wie der einstige Turnschuhfabrikant, der binnen ein paar Jahren zum Marktführer bei Windenergieanlagen wurde, kann nicht jeder. Auch in Hannover nicht.
Die Demonstration in Richtung Lindener Marktplatz wird von den Wabco-Leute angeführt. Besser gesagt von einer Hand voll türkischer Frauen aus dem Werk. Die ausländischen Kollegen gelten in vielen Betrieben als besonders kämpferisch. Aber Betriebsrätin Dombrowski wiegelt ab: »Ob grün, lila oder rot - hier ziehen alle an einem Strang.« Auch Michael Zyla. Der Wabco-Betriebsrat - »bitte mit Zett und Ypsilon!« - lässt sich nicht lang um Antworten bitten. Er redet sowieso, spricht über die Angst im Betrieb, die drohenden Entlassungen und natürlich über das »berechtigte Stück vom Kuchen«.
Die 6,5 Prozent, die die Metaller fordern, sind jedoch nicht das einzige Thema beim Marsch durch den alten Arbeiterbezirk Linden. Staades Seniorengruppe hält ein Transparent für nettolohnbezogene Rentenerhöhungen in die kalte Luft; ein paar Lehrlinge schwatzen über Gebrauchtwagenpreise. Und selbst die Grundschulversorgung in Badenstedt kommt nicht zu kurz. Inzwischen sind die alten Häuserzeilen von Linden erreicht.
Schon eine ganze Weile zu kurz gekommen ist Klaus. Am Schmuckplatz, der seinem Namen keine Ehre macht, winkt der 44-Jährige den trillernden Metallern zu. Zum Thema Arbeit fällt dem strubbeligen Kopf nichts ein: »Bei mir? Fehlanzeige«. Dann winkt Klaus weiter. Wie andere auch. Wegen der Demonstration der IG Metall gibt es bei den Hannoveranern kaum ein böses Wort. Selbst der Fahrer der Straßenbahn nach Ahlem grüßt aus dem Stau mit erhobenem Daumen. Am Straßenrand wirbt Stefan Müller von der 150 Genossen »starken« PDS in Niedersachsens Landeshauptstadt für ein kleines Faltblättchen der Bundestagsfraktion: »wirtschaft, soziales, widerstand«.
Letzterer hat in Linden Tradition. Das bis 1885 größte Dorf Preußens mauserte sich in der industriellen Revolution zum aufrührerischen Zentrum. Im »roten Stadtteil« erhielten die Sozialdemokraten nach Aufhebung der Sozialistengesetze stets mehr als 70 Prozent der Stimmen; Nazis waren im Viertel bis ganz zuletzt nicht geduldet - die »Eroberung« des Arbeitertreffs »Posthorn« durch die Faschisten gelang Ende der zwanziger Jahre nur unter Polizeischutz. Linden, das sagen hier beinahe alle, heißt irgendwie auch Arbeiterbewegung.

6,5 Prozent mehr Lohn? »Da sind die Firmen noch gut bedient«

Am Markt kommt dann auch Bewegung in den Zug der Warnstreikenden - der Erbsen wegen. Mit Würstchen und umsonst. »Suppe ist für alle da«, dröhnt es vom Laster der IG Metall. Schließlich will man ja auch noch eine politische Botschaft loswerden. So wie Eddi Schubert vom Vertrauensleutekörper der Batterieschmiede Varta. Eine Million Batterien mehr mit nur zwei Kollegen zusätzlich haben sie produziert, »Produktivitätssteigerung auf Kosten der Beschäftigten«. Dafür soll es in dieser Tarifrunde endlich mehr Geld geben, notfalls auch per Streik. Schuberts Faust zappelt gen Himmel. Außerdem sei man den Unternehmen ja bereits entgegengekommen: Mit 6,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt, ruft er über den Markt, sind die Arbeitgeber noch gut bedient.
Gut bedient hat sich inzwischen auch halb Linden - an der warmen Suppe. Im Warnstreik werden keineswegs nur die Kollegen satt. Dann spricht Hartmut Meine. Der Mann ist so etwas wie der Chef des Ganzen: Bezirksleiter der IG Metall in Niedersachsen und Verhandlungsführer in der aktuellen Tarifrunde. Meine kommt bei den Kollegen gut an. Mit seinem roten Schal und der Kutte nimmt man ihm die kämpferischen Worte eher ab, als manch anderem Obermetaller mit Rolex am Unterarm. Richtig sauer wird Meine, wenn er über die Argumente der Arbeitgeber spricht. Zum Beispiel, das niedrige Löhne Arbeitsplätze sichern. »Diese Litanei der Unternehmer«, ruft Meine, »ist doch so alt wie die Gewerkschaftsbewegung.«

Wabco und die Litanei der Unternehmer - so alt wie die Gewerkschaften

Und die Firma Wabco. Der Name kommt von Westinghouse Air Brake Company, der ursprünglichen Firmenbezeichnung. 1869 gegründet - Hannover sah da seine ersten großen Streiks - werkeln heute gut 2700 Beschäftigte an Fahrzeugteilen, Bremssystemen und Regeltechnik - Motto: »Wie stoppt man einen Vierzigtonner? Bei Wabco sind Menschen, die solche Rätsel gelöst haben.« Dass diese Menschen einen besseren Lohn wollen, bleibt hingegen erst einmal ungelöst. Die Offerte der Arbeitgeber liegt bei je zwei Prozent für dieses und das nächste Jahr. Die Inflation wird wohl genauso ausfallen.
Meine nennt das Angebot der Unternehmen deshalb eine »Provokation« und verspricht, die Warnstreiks auszuweiten. Bringt das nichts, gibt es in zwei Wochen vielleicht einen Streik, und zwar ohne Schlichtung. Dann wollen die Kollegen die Betriebe richtig dicht machen. Länger als nur einen Vormittag.
Der Warnstreik in Hannover neigt sich inzwischen dem Ende entgegen. »Die Weber«, zwei klampfende IG-Metaller, haben die ohnehin gute Stimmung nicht sonderlich verbessern können. Und während Meine vom Laster hüpft und sich schulterklopfend verabschiedet, drängen die Kollegen bereits auf den Rückweg. Sogar Suppe ist noch da.
Auch das Trillern der Pfeifen und die roten IG-Metall-Fahnen sind geblieben, den ganzen Marsch zurück zum Lindener Hafen. Hinter den Fenstern des »Existenzgründerzentrums Hannover« erntet der Zug jedoch Kopfschütteln. Mit den Symbolen des »alten Klassenkampfes« kann die »neue Ökonomie« offenbar wenig anfangen. Nicht wenige Neugründungen stehen ohnehin längst wieder vor dem Aus. Kurz vor zwölf macht dann auch die Polizei Schluss. Vor der letzten Ampel müssen die roten Mützen von Wabco deshalb sogar noch einmal auf grünes Licht warten. Ganz zum Schluss werden die Betriebsausweise hervorgekramt. Ohne die kommt niemand ins Werk - auch nicht nach einem Warnstreik.

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