»Ein menschwürdiges Dasein«

Hartz IV-Regelsatz für Kinder: Karlsruhe will nun grundsätzliche Fragen klären

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 4 Min.
In Karlsruhe deutet sich eine kleine Sensation an: Das Bundesverfassungsgericht könnte die am Dienstag begonnen Verhandlungen über den Hartz IV-Satz für Kinder zum Anlass nehmen, ein »Grundrecht auf menschenwürdiges Existenzminimum« zu formulieren. Bislang fanden sich im Grundgesetz nur sehr schwammige Formulierungen zum Sozialstaatsprinzip.

Am Dienstag kam der erste Senat des Bundesverfassungsgerichtes erstmals zusammen, um über die Klagen dreier Familien aus Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern zu verhandeln. Die Hartz IV-betroffenen Familien hatten sich zuvor durch mehrere Instanzen geklagt, um die willkürliche Festsetzung der Regelsätze von Kindern richterlich prüfen zu lassen. Zwar wird das Urteil erst im Frühjahr des nächsten Jahres erwartet, doch deutete sich bereits am Dienstag an, dass die Richter zu Gunsten der Kinder entscheiden werden. Der Erste Senat muss zuerst klären, ob die pauschale Kürzung der Hartz-Regelsätze für die rund 1,7 Millionen betroffenen Kinder gerechtfertigt ist. Derzeit erhalten Kinder unter sechs Jahren 215 Euro, also 60 Prozent des Regelsatzes eines Erwachsenen, der 359 Euro beträgt. Für Kinder zwischen 6 und 14 Jahren sind es 70 Prozent, somit 251 Euro. Teenager bekommen 287 Euro monatlich. Die zweite Stufe wurde erst vor kurzem eingeführt. Bis dahin bekamen alle Kinder unter 14 denselben Betrag.

Für den ehemaligen Bundesrichter Wolfgang Neskovic ist es ein Skandal, dass sich in den letzten Jahren kein erstinstanzliches Gericht und kein weiteres Landessozialgericht dazu entschließen konnte, die Kinderregelsätze vom Bundesverfassungsgericht prüfen zu lassen. Schließlich liege die Verfassungswidrigkeit von Hartz IV auf der Hand, so Neskovic, der für die LINKE im Bundestag sitzt. Die deutschen Richter ließen wirklich viel Zeit verstreichen, immerhin sind die entsprechenden Regelungen bereits seit Januar 2005 in Kraft. Besonders enttäuschend: Kein ostdeutsches Landessozialgericht wandte sich bislang an Karlsruhe. Dabei sind es vor allem Kinder in den neuen Ländern, die unter den niedrigen Hartz IV-Sätzen zu leiden haben: Nach Angaben des Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) leben nirgendwo so viele Kinder von Hartz IV wie in Schwerin, der Hauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns. Beinahe 40 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren leben dort in Armut. In Frankfurt an der Oder, Stralsund oder Neubrandenburg sieht es nicht viel besser aus.

Doch die entscheidenden Impulse kamen nicht aus dem Osten, sondern vom Landessozialgericht Hessen und dem Bundessozialgericht in Kassel. Die dortigen Richter sahen in den Kinderregelsätzen eine Verletzung der Garantie des Existenzminimums. Außerdem stellten beide Gerichte einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot fest, weil Kinder von Hartz IV-Betroffenen keinen Anspruch auf Sonderleistungen haben, während die Kinder von erwerbsunfähigen Sozialhilfeempfängern solche Leistungen beantragen können.

Die Bundesregierung gab sich am Dienstag uneinsichtig und verteidigte ihr Gesetz. Während der Anhörung behauptete Staatssekretär Detlef Scheele aus dem Bundesarbeitsministerium, die Höhe der Leistungen sei »plausibel und sachgerecht« auf Grundlage wissenschaftlicher Methoden festgesetzt worden. Diese wissenschaftlichen Methoden reduzieren sich offenbar auf den Gebrauch des Taschenrechners. Bis heute kann die Bundesregierung nicht hinreichend nachweisen, warum Kinder einen auf den Prozentpunkt genau fixierten Regelsatz erhalten, obwohl es keine genauen Berechnungen der tatsächlichen Kindsbedarfe gibt.

Ins Schwimmen kam die Vertreterin des Statistischen Bundesamtes, die gestern ebenfalls vom Gericht befragt wurde. Schließlich erstellt die Wiesbadener Behörde alle fünf Jahre eine sogenannte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), an der sich auch die Höhe des Hartz IV-Regelsatzes für Erwachsene bemisst. Das Arbeitslosengeld II wird dann anhand des Durchschnittseinkommen der unteren 20 Prozent der Bevölkerung berechnet. Die Vertreterin konnte nicht erklären, warum das so ermittelte Durchschnittseinkommen der Geringverdiener auch noch um Ausgaben für Pelzmäntel oder Maßkleidung gekürzt wird, um den ALG II-Satz festzulegen. Somit werden auch den Kindern diese Luxusgüter, die sich ihre Eltern gar nicht leisten können, quasi vom Regelsatz abgezogen.

Viele Beobachter erwarten, dass Karlsruhe die bisherige Pauschalisierung kippen wird. Die Richter könnten sogar noch grundsätzlichere Entscheidungen treffen. Schließlich glaubt selbst Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier nicht, dass der 2005 festgelegte Regelsatz für Erwachsene den tatsächlichen Lebensumständen entspricht. Der Richter sprach am Dienstag von einer »punktgerechten Landung« der rot-grünen Koalition, als sie den politisch gewünschten Betrag auf 345 Euro festlegte. Papier bezweifelte, dass die damaligen Berechnungen »wirklich valide« gewesen seien. Was der Gerichtspräsident durch die Blume sagte, kritisieren Sozialverbände schon seit vielen Jahren. Die damalige Schröder-Regierung wollte vor allem einen möglichst niedrigen Regelsatz fixieren, um so mehr Menschen in Billigjobs zu drängen. Je geringer der Hartz IV-Satz desto niedriger muss der gezahlte Lohn sein, um Erwerbslose zur Arbeitsaufnahme zu »motivieren«, so das zynische Kalkül.

Gerichtspräsident Papier betonte gestern, dass er die Schrödersche Lohndrückerei nicht zum Maßstab seiner Prüfungen machen wird. Vielmehr soll »ein menschenwürdiges Dasein« die Messlatte sein. Damit könnte das Gericht ein generelles Grundrecht auf ein »menschenwürdiges Existenzminimum« formulieren und somit das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes konkretisieren. Das beträfe dann nicht nur die Kinder, sondern alle Bundesbürger.

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