Flucht zu sich selbst?
André Brie über ein Buch, Konflikte mit der DDR und den Motor Erinnerung
Hans-Dieter Schütt hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Gesprächsbücher mit Künstlerinnen und Künstlern aus der DDR veröffentlicht, in denen es seine klugen, behutsamen und ungemein gut vorbereiteten Fragen den Partnern ermöglichten, sich dem eigenen Werden und Sein zu stellen. Wunderbare, anregende, aufschlussreiche Bücher sind so entstanden.
Nun, »glücklich beschädigt«, befragt der ehemalige Chefredakteur der »Jungen Welt« und Sekretär des Zentralrates der FDJ sich selbst und nennt sein Buch im Untertitel »Republikflucht nach dem Ende der DDR«. Ja, Schütt flüchtet aus jener Republik, die er offensichtlich erst nach ihrem Ende kennen gelernt hat (das allerdings ist schon erstaunlich für einen so hoch gebildeten und intellektuellen Journalisten, der er auch schon vor 1989 war). Selbst hatte ich ein völlig anderes Problem. Ich kannte einen Großteil der ökonomischen und politischen Rückstände der DDR und den zunehmenden Unmut in der Bevölkerung, ich sah umfangreichen und grundsätzlichen Veränderungsbedarf, litt, ja, tatsächlich ich litt, am Stillstand und Rückschritt, suchte mir in Vorträgen, Aphorismen, Kabaretttexten und schließlich an der Mitarbeit am Projekt eines »modernen Sozialismus« ein Ventil, doch die politischen Einsichten kollidierten mit meinen persönlichen Konsequenzen. Zu ihnen war ich aus unterschiedlichen Gründen nicht bereit oder war mir ihrer Notwendigkeit nicht einmal bewusst. Nicht zuletzt hatte ich Angst um die Existenz und Stabilität der DDR. Das letzte, was ich wollte, war die BRD, so lange, bis alle Möglichkeiten einer anderen DDR verspielt waren.
Als Hans-Dieter Schütt seinen berüchtigten Verriss des antistalinistischen Films »Die Reue« schrieb, der in seinem Buch und in seiner schonungslosen Auseinandersetzung mit sich selbst eine zentrale Rolle spielt, hatte ich einen Brief meiner Abteilungsparteiorganisation an Honecker gegen das Verbot sowjetischer Filme und der Zeitschrift »Sputnik« initiiert. Eine Woche später stand ich allein. Auch jene, die dem Schreiben zugestimmt hatten, eröffneten ein Parteiverfahren gegen mich.
Bis heute habe ich meine detaillierten Notizen aus den monatelangen zermürbenden Sitzungen mit einer ZK-Kommission, der Parteikontrollkommission und der Institutsleitung aufbewahrt. Wie ich auf immer neue Vorwürfe mit immer schärferer Selbstkritik und Selbstverleugnung reagierte, um mein Fell und meine Parteimitgliedschaft zu retten, treibt mir noch immer die Schamröte ins Gesicht. »Auch die Muse der Geschichte ist eine Frau; sie hat ihre schamhaften Stellen.« So einer der berühmten »Unfrisierten Gedanken« des unvergleichlichen Stanislaw Jerzy Lec.
Schütt nimmt darauf, auf sich selbst, keine Rücksicht. Es ist ein unverschämtes und unverschämt gutes Buch, ein nachdenkliches, gedanklich und literarisch großartig geschriebenes. Wer in Büchern allerdings nur die Bestätigung der eigenen Überzeugungen sucht, wird mit Schütt nicht klar kommen. Mit ihm einverstanden sein muss man nicht. Lesen muss man das Buch. Schütt wirft nicht nur die Legenden, Lügen, Dummheiten, die verordneten und eigenen Denkverbote über Bord, er geht, er springt selbst von Bord. Oder doch nicht? Kann ein Mensch, der nicht verdrängen, nicht vergessen mag, der das Nachdenken so sehr mag, das überhaupt? Alexander Herzen jedenfalls meinte: »Natürlich, die Lage des Menschen in der Geschichte ist komplizierter, hier ist er gleichzeitig Boot, Welle und Steuermann. Wenn es nur eine Karte gäbe!«
Ihre Existenz bezweifelt auch Hans-Dieter Schütt. Nachdem wir eine Lehre hatten, die allmächtig war, weil sie wahr war, und sich vor der Geschichte und den Menschen in der DDR 1989 in wenigen Tagen als Leere erwies, gibt es natürlich jeden Grund, geschichtsdeterministische Theorien und allmächtige Gewissheiten zu verwerfen. Schütt ist aber auch fähig, eigene Überlegungen und Schlussfolgerungen immer wieder in Frage zu stellen. Wer sich selbst fragen will, noch nicht und nie wieder die wohlfeilen Antworten haben möchte, den schmerzlich wohltuenden Streit des gründlichen Nachdenkens sucht, ist bei Schütt sehr gut aufgehoben. Letztlich aber ist er nicht selten ebenso rigoros wie vor 1989, nur diesmal in der anderen Richtung. Ist es sein Charakter, ist es die Scham, ist es erfahrene Überzeugung? Schütts Selbstabrechnung hat jedenfalls so gar nichts mit jener des früheren Politbüromitglieds Schabowski zu tun. Sie ist ehrlich und verantwortlich, sie kennt die Skepsis und den Zweifel. Sie wird von einer großen menschlichen Kultur getragen.
Zum Wahlerfolg der Linken und zur Diskussion um eine Öffnung der SPD nach Links und zur Normalisierung ihres Verhältnisses zur Linkspartei konnte es kaum eine wichtigere Veröffentlichung geben. Die Gefahr ist doch groß, dass wir nach zwei Jahrzehnten Siegergeschichtsschreibung, einseitiger und allzu unvollständiger Auseinandersetzungen mit der DDR, der totalitären Abrechnung mit jedem Versuch, eine andere Gesellschaft als die kapitalistische zu denken oder gar zu versuchen, sowie angesichts der jetzigen Wahlerfolge und der neuen Akzeptanz durch Millionen Menschen und politische Kontrahenten, zur Tagesordnung übergehen und unsere Geschichte Geschichte sein lassen. Und das ist ja nicht vor allem eine Frage nach der Theorie und der politischen Praxis, sondern nach unserem eigenen Verhalten und unserer eigenen Verantwortung. Die Antwort darauf ist mehr als das politische Bekenntnis zu Demokratie und Freiheitsrechten, sie ist in mancher Hinsicht auch Demut (»Von der Hochmut der Macht zur Demut der Demokratie« plakatierten wir 1990), sie ist Offenheit und Achtung gegenüber anderem Denken, Selbstverantwortung.
Ich komme zu anderen Konsequenzen als Hans-Dieter Schütt, doch vor seiner unbestechlichen Prüfung kann ich mich nicht drücken. Sie reißt die ohnehin offenen Wunden tief auf, aber sie bleibt eine unerlässliche Voraussetzung für die fortgesetzte Neugewinnung und Wandlung linker, sozialistischer Politik. Edelbert Richter hat in seinem ebenfalls kürzlich erschienen Buch »Die Linke im Epochenumbruch« eindringlich gewarnt: »Die Vereinigung der bisher gespaltenen Linken in Deutschland 2007 zur Partei DIE LINKE war ein historisches Ereignis, das dazu zwingt, sich der eigenen Tradition neu zu vergewissern. Geschieht dies nicht, so bleibt es kein historisches Ereignis. Die Pragmatiker, die zu solchem Nachdenken keine Lust haben, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, das Projekt im Grunde nicht ernst zu nehmen, es als Eintagsfliege zu behandeln.«
Dafür ist Schütts Buch eine ungeheure Zumutung. Sich selbst mutet er eine bis und in die eigene Substanz reichende Infragestellung zu, die Hegels Warnung, zwar an allem, aber nicht am Subjekt des Zweifels zu zweifeln, weit überschreitet. Es mutet den Leserinnen und Lesern, den linken unter ihnen am meisten, ungewohnt viel zu. Es sind seine Fragen, die unsere neuen Antworten schon wieder in Frage stellen, seine Denkwege, die unter den Fundamenten linker Überzeugungen wühlen, Zuspitzungen, die das dicke Fell alter und neuer Gewissheiten durchbohren, manchmal bis ins Herz. Das hat Schütt selbst an dieses Buch gegeben. Man mag Schütts radikale Kritik verwerfen, ohne sich ihr zu öffnen, wird man jedoch nicht weit kommen. Die üblichen Verratsvorwürfe wird er ohnehin ernten. Sie gehören gerade dort zur hundertjährigen Tradition der Linken, wo sich einer nicht verabschiedet, sondern kritisch und eigenständig fragt und äußert. Auch davon erzählt Schütt, beispielsweise von Heiner Müller, Günter de Bruyn und Adolf Dresen. Man könnte und müsste noch immer heulen über unsere Dummheit! Doch das Buch ist nicht Zeugnis einer Selbstaufgabe. Schütt gibt die DDR auf, ja er behauptet sich endlich von ihr frei gemacht zu haben (was ich bezweifle, zumal so, mit großem sehr ernsten und ernstzunehmenden Sinn, vielleicht nur einer schreiben kann, der aus der DDR kommt und sie mitgenommen hat).
»Es ist schwierig, die DDR nach dem Ende der DDR zu beschreiben«, sagte Christoph Hein unlängst: »Nach der beendeten Jagd wird der Bär immer größer, gewaltiger und fürchterlicher. Die Beschreibungen der DDR nach ihrem Fall sind manchmal grotesk übertrieben, manchmal untertrieben.« Dieser Gefahr ist Hans-Dieter Schütt nicht erlegen. Seine Beschreibung der DDR, der SED und FDJ und der eigenen Arbeit, Verantwortung, ideologischen Borniertheit bleibt realistisch, tatsachengerecht, dokumentarisch, ehrlich. Doch gilt das auch für seine intellektuellen und politischen Schlussfolgerungen?
Er selbst hat seinem Buch einen Gedanken von Botho Strauß vorangestellt: »Soviel Kraft, von der man nicht glauben sollte, dass sie sich wehrlos der Zeit ergäbe; dass ein paar Monate ausreichen, um sie zu brechen.« So ist es Schütt ergangen. Als die Mauer fiel, brach sein Gedankengebäude zusammen. Das ist gut. 1990 schenkte mir eine Genossin aus dem mecklenburgischen Sternberg ihr Tagebuch. Sie, Tochter eines deutschen Kommunisten, der noch kurz vor Kriegsende ermordet worden war, die selbst 1945 auch ihre schlesische Heimat verlassen musste, schrieb am 3. Oktober 1990: »Das ist mein zweiter Tag der Befreiung.« Als ich das damals las, musste ich schlucken, elend viel schlucken. Doch wenn eine Sackgasse, aus der man nicht herauskommt, zertrümmert wird, kann man eine solche Einsicht haben. Diese Genossin sah die Möglichkeit, ihre sozialistischen Überzeugungen nunmehr frei und neu zu leben. Hans-Dieter Schütt hat nicht aufgehört, den erlebten Kapitalismus scharf zu kritisieren. Nur eine Alternative, so mein Eindruck, vermag er wohl nicht zu sehen. Leichtfertig sollte man ihn damit nicht abtun. Es ist schon bedenkenswert, was Schütt zu seiner heutigen Zeitung und sicherlich uns allen schreibt: »Wer – verführt vom rohen Zustand jetziger Welt – das Ende der DDR nach wie vor zum Betriebsunfall verklärt oder den Ex-Staat einzig und allein zum überrumpelten Opfer feindlicher Übernahmen macht, der hat den Sozialismus, dem er angeblich dient, ein weiteres Mal verraten und verkauft.«
Doch es gibt bei Botho Strauß auch eine andere Überlegung: »Zukunft bildet sich aus unbeschaffenem Alten. Ihr Material ist das vor Zeiten Übersehene.« Oh, wir marxistisch-leninistischen Sozialistinnen und Sozialisten haben arg viel übersehen: libertäre Sozialismusvorstellungen aus dem 19. Jahrhundert oder bei Sartre und Camus und in der 68er Bewegung, die Freiheitsansprüche bei Marx und Engels, Rosa Luxemburgs Kritik der Parteiendiktatur und der Unterdrückung von Meinungsfreiheit und Pluralismus, die fundamentalen ökologischen Positionen von Marx, Hegels Geschichtsdialektik, die dreifaches Aufheben ist: Aufheben als Bewahren (alles Zivilisatorischen bisheriger Geschichte), Aufheben als Emporheben, Fortentwickeln, Aufheben als Überwinden (des Fortschrittsfeindlichen). Dieses und so viel anderes Material bei Müller, de Bryun, Dresen, Hrdlicka, Egon Bahr, Christa Wolf, beschreibt Schütt, aber er bringt es nicht an dieses Licht. Das eben ist meine Differenz mit ihm, aber auch mit dem urwüchsigen und ungebändigten Bildhauer und Kommunisten Alfred Hrdlicka, den Schütt zitiert: »Wer als Sozialist glaubte, den Sozialismus ohne Unterdrückung aufbauen zu können, muss ein komischer Sozialist gewesen sein.«
Mit dem rohen, verrohten und verrohenden Zustand jetziger Welt kann man sich nicht abfinden. Und muss man sich nicht abfinden. Nur geht es meiner Meinung nach eben nicht darum, »alle Mächte der alten Gesellschaft zu zerschlagen«, es kann und darf auch nicht mehr um einen Sozialismus gehen, der ohne Unterdrückung nicht auskommt. Es geht nicht darum, den Sozialismus wieder zur reinen Utopie oder allein zur Bewegung und zum Wertesystem zu machen, und auch nicht darum, ihn wieder zur Wissenschaft zu erklären, wohl aber, ihn sehr praktisch für die aktuelle Politik und gesellschaftlichen Wandel zurückzugewinnen. Unsere folgenschwerste geistige und politische Unfähigkeit war die Unfähigkeit zu differenzieren. Sie bleibt es hoffentlich nicht.
Was, wenn Sozialismus eben nicht das Gegenteil von Kapitalismus ist, sondern (Marx und Engels war auch dieser Gedanke durchaus vertraut), sein dreifaches Aufheben? Dann ist er völlig anders als er war, emanzipatorisch und antirepressiv, libertär und demokratisch, ökologisch und kulturorientiert. Dann ist er aktueller denn je. Und vielleicht sollten wir auch die DDR in solcher Weise aufheben?
Hans-Dieter Schütt: Glücklich beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR. wjs Verlag. 223 S., geb., 16,90 €.
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