Träume von einem besseren Leben

52. Dokumentarfilm-Festival in Leipzig: Erinnerungen und Kontraste

  • Heinz Kersten
  • Lesedauer: 3 Min.

Filmfestivals sind auch Orte der Erinnerung, auf der Leinwand und manchmal auch jenseits des Kinos. 52 Jahre DOK Leipzig geben Anlass. Das Hotel »Astoria«, einst Mittelpunkt pulsierenden Festivallebens, rostet nun schon seit Jahren als leere Hülle vor sich hin. Hier logierte früher auch mal Ioris Ivens, eine Ikone des Dokumentarfilms und 1960 Mitinitiator der Internationalisierung des Leipziger Festivals. Später fiel er wegen seiner Sympathien für Mao in Ungnade. Jetzt wurde ihm zum 20. Todestag eine Retrospektive gewidmet. Mit seinen Filmen über den spanischen Bürgerkrieg und den chinesischen Widerstand gegen japanische Invasoren auch ein Stück Zeitgeschichte. Erinnerungsarbeit leistete schon der Eröffnungsfilm des Festivals »Berlin-Stettin«. Volker Koepps jüngste Arbeit ist eine sehr persönliche biografische Reise vom Kriegsende in Karlshorst bis in die Gegenwart polnischer Studenten im heutigen Stettin. Unterwegs trifft der Regisseur Protagonisten seiner früheren Filme: Zehdenicker Ziegeleiarbeiter, Frauen aus der Textilfabrik von Wittstock, die Schweißerin aus »Tag für Tag«.

Einen Blick zurück wirft auch Birgit Schulz mit ihrem spannenden Porträtfilm »Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte« (ab 19.11. im Kino). Archivaufnahmen beschwören noch einmal die Atmosphäre der APO-Jahre, zu denen sich in einem Gerichtssaal die damaligen Verteidiger äußern: Otto Schily, der Wandelbare, aber hier auch sein negatives Bild in der Öffentlichkeit Korrigierende, Hans-Christian Ströbele, der Unbeugsame, und Horst Mahler, dessen Wende zum Rechtsaußen weiterhin rätselhaft bleibt.

Festivals leben auch von Kontrasten. Was aus Ivens' China der 1930er Jahre geworden ist, führen Julia Albrecht und Busso von Müller in »Shanghai Fiction« vor. Ein kapitalistischer Moloch. Darin stehen ein Wanderarbeiter, eine coole Geschäftsfrau, ein Hochschulprofessor, der mit seiner Familie in der Kulturrevolution gelitten hat, und ein deutscher Stadtplaner für die Wandlung vom Kommunismus zur Marktwirtschaft. Vom einstigen Glauben an Maos neue Gesellschaft ist nichts geblieben. Desillusioniert sie alle. Nur der Junge vom Dorf träumt noch von einem besseren Leben. Zweimal gegensätzliche Haftbedingungen: Aleksandr Gutmans mit einer Lobenden Erwähnung bedachter Film »17. August« beobachtet einen »Lebenslänglichen« einen Tag lang in seiner trostlosen russischen Zelle, während Aleksandra Kumoreks und Silvia Kaisers »Die Eroberung der inneren Freiheit« das weltweit einzige Experiment »sokratischer Gespräche« (»Erkenne Dich selbst!«) mit Inhaftierten im Gefängnis von Berlin-Tegel dokumentiert, eine von zwei Philosophen moderierte Gruppentherapie.

Mehrfach spielte im 330 Filme aus 69 Ländern umfassenden Leipziger Programm das Thema Migration eine Rolle. Vier Schicksale von Tschetschenien-Flüchtlingen hat Kerstin Nickig in »Kein Ort« verfolgt. In Österreich, Polen und der Ukraine sind sie von Abschiebung bedroht. Zwischen Hoffnung und Verzweiflung warten auch Asylsuchende aus Sri Lanka, Äthiopien, Kongo und der Mongolei in Paris auf die Entscheidung der Bürokratie. Dort gibt es eine städtische Anlaufstelle, in der ihnen Sozialarbeiterinnen die ersten Wege zu ebnen versuchen. Claudine Bories und Patrice Chagnard konzentrieren sich in ihrem Film »Les arrivants« ganz auf die Gespräche beider. Die Verständigung ist mühsam, bedarf der Dolmetscher, manchmal nur per Telefon. Oft sind die um Hilfe und Verständnis bemühten Frauen überfordert, wenn ihre Gegenüber, darunter Mütter mit Kindern und Schwangere, über katastrophale Unterbringung oder Obdachlosigkeit klagen und ihre Fluchtwege über Schlepper oder Touristenvisa nicht deutlich machen können. Ein berührendes humanes Dokument, das zu Recht die Goldene Taube erhielt und die Preise der Ökumenischen Jury und der Gewerkschaft ver.di.

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