Kasper aus der Kiste

Schillers »Der Parasit« als clowneskes Puppenvergnügen am BE

  • Christoph Funke
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 18. Oktober 1804, also vor fast genau 105 Jahren, war in der Berliner »Zeitung für Theater und Musik« eine kenntnisreiche Kritik über Schillers Lustspiel »Der Parasit« zu lesen: »...ein Charaktergemählde, voll Verstand, Menschenkenntniß und Feinheit; aber ohne komische Kraft. Der Dialog ist, wie sich's von einem Schillerschen Stück versteht, schön, rein und edel, doch ohne allen Witz.« Ob sich dem wohl abhelfen ließe? Philip Tiedemann im Berliner Ensemble hat es versucht. Er gibt das aus dem Französischen des Louis-Benoit Picard frei übersetzte Stück als Puppenspiel. Oder, besser, als eine Zusammenkunft gnomenhafter Geschöpfe, die zum Sitzen verurteilt sind, weil sie nur Beine aus Holz und Stoff zur Verfügung haben. Diese vielfältig gebastelten, artig beschuhten Extremitäten aber haben es in sich, sie geben Auskunft über Haltungen, Zuordnungen, Abhängigkeiten, sie werden geschlenkert und geschleudert, auch mal unter die Arme geklemmt, zusammengefaltet, weggedrückt. Klappen öffnen sich, die putzigen Figuren tauchen auf und wieder ab: Deckel auf, Deckel zu. Im vielfachen Untergrund rumort es unaufhörlich. Denn eigentlich wird ja eine Staatsaffäre verhandelt, ein Rangeln um Posten, Einfluss, Macht. Da braucht der höchstgestellte Intrigant, eben der titelgebende Parasit, schon ein paar Leute für seine schmutzigen Absichten. Sechs Assistenten hat er im Dienst, die überall mitmischen.

Was bleibt da von einem »echt psychologischen Seelengemälde«, wie eine andere zeitgenössische Kritik den »Parasit« rühmt, übrig? Nichts. Oder, besser, etwas ganz anderes. Im Berliner Ensemble sind die Figuren des Lustspiels ins Kindliche getrieben, neu erfunden, wie aufgepumpt. Große Politik und rüder Machtkampf wandeln sich zu virtuoser Hampelei. Die widerstreitenden Absichten der absonderlichen Geschöpfe aber bleiben dabei deftig deutlich. Es gibt kein Federlesen mit Gefühlen welcher Art auch immer, alles bleibt genussvolle Clownerie. Mitunter allerdings blitzt da schon Bosheit auf – diese Versammlung der Aufgepolsterten, Plüschigen, Schlenkernden, buchstäblich Verrückten könnte, wie man weiß, leicht der Bühne entlaufen.

Außerordentliches leisten die Schauspieler. Ihre Gelenkigkeit, verdoppelt durch die »gemachten« Gliedmaßen, ist staunenswert. Was da durcheinander wuselt, schiebt, kriecht, hüpft und klettert, folgt tausend und einem Einfall. Tiedemann und die Truppe nutzen fleißig, was ihnen Bühne (Etienne Plus) und Kostüme (Stephan von Wedel) zur Verfügung stellen. Sie lassen keine Wirkung aus. Es gibt eine komödiantische Nummer nach der anderen, wenn etwa die mehr als abgehangene Mutter des Ministers (Axel Werner) erotisch angewärmt wird oder die begehrte Jungfrau Charlotte (Laura Tratnik) im gefühlvollen Liebesliedchen fast zerfließt, zusammenklappt, in süßester falscher Scham vergeht.

Stehende Charaktere werden geliefert, dem Puppenspiel gemäß, aber die stimmen in ihrer existentiellen Gegebenheit, vom Minister (Norbert Stöß) über die »Subalternen« Firmin-Vater (Roman Kaminski), Firmin-Sohn (Dejan Bucin) und La Roche (Alexander Ebeert) bis zum Schurken Selicour (Thomas Wittmann). Dieser bei Tiedemann vervielfältigte dunkle Ehrenmann war zu Schillers Zeit eine Paraderolle von Iffland. Wenige Monate vor seinem Tod, im Januar 1805, teilte der Dichter dem Schauspieler mit, er habe mit großer Freude gehört, »daß Sie den Parasit in Berlin gegeben haben, und daß Sie in der Rolle des Selicour Wunder gethan. Mein Glaube hat mich also nicht betrogen, daß dies eine Rolle sei, welche Ihnen vorzüglich gelingen müsse«. Wunder tun konnte Thomas Wittmann am Berliner Ensemble nicht, aber er und die sechs Gevattern zeigen das Schurkische in einer unerwartet gepflegten Zurichtung, die Aufdringlichkeit ins akrobatisch Sportliche hinüberführt.

Und – die Aufführung überrascht mit intelligentem musikalischem Zauber. Gestische Vorgänge werden durch punktgenaue Signaltöne gekennzeichnet, und sonst kommt alles zu Gehör, was ein nach Gefühligkeit süchtiges Herz nur verlangen mag. Der Komponist Jörg Gollasch gibt den Puppen-Menschen Rhythmus und Kontur, schenkt ihnen einen pompösen Schlussgesang in der Art des »Dreigroschenoper«-Finales. Eitel Sonnenschein also? Man muss nicht nur die verschrobenen Kunstgeschöpfe des Philip Tiedemann und ihr groteskes Treiben mögen, sondern auch beunruhigenden Verzicht leisten. Schillers glasklare, durchdringende Analyse der alles bestimmenden Bosheit dieser Welt verliert im Putzig-Verschrobenen nun doch an Schärfe, und ein Sprachgedicht schrumpft zum derben, kindlich überdrehten Ulk. Wer das hinnimmt, wird Vergnügen an diesem »Parasit« haben.

Nächste Aufführungen am 10. und 15. November.

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