Ein »Ausländer« wird nicht Pionier

Korrespondent Peter Pragal und seine Jare in der DDR: »Der geduldete Klassenfeind«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Wort mutet etwas an, inzwischen. Vielleicht ein wenig wie Schreibmaschinenfarbband oder Brigadetagebuch oder Gegenplan – alles Belege dafür, dass auch die Sprache dem Berufsstand der Archäologen zuarbeitet. Klassenfeind, dies ist das Wort. Das fast schon unbekannt gewordene Wesen. Peter Pragal war ein Klassenfeind. 1974 begann seine Korrespondentenzeit in der DDR, zunächst als Reporter und Kommentator der »Süddeutschen Zeitung«, später akkreditiert für den »Stern«. Er war der erste bundesdeutsche Journalist, der nicht nur sein Büro im Osten hatte (in der Leipziger Straße), sondern auch seinen privaten Wohnsitz, mit Frau und zwei Kindern, in den DDR-Teil Berlins verlegte.

Arbeit und Leben nicht mehr getrennt – Pragals wohnten in Lichtenberg, in der Ho-Chi-Minh-Straße. Plattenbau. Sohn Markus geht in eine DDR-Schule, wird, weil er »Ausländer« ist, vom Beitritt zu den Jungpionieren befreit. Eines Tages kommt er nach Hause und fragt, was ein »Grenzverletzer« sei. Und »schon« nach einem Vierteljahr bekommen Pragals ein Telefon, wenn zunächst auch nur einen sogenannten Doppelanschluss: Zwei »Teilnehmer«, einander unbekannt, teilen sich eine Leitung. Wer spricht, blockiert automatisch den anderen. Eine etwas gewöhnungsbedürftige journalistische Universität, wenn man erstens gerade aus dem Münchener Komfort kommt und zweitens für ein aktuell reagierendes Medium arbeitet.

In seinem Buch »Der geduldete Klassenfeind« schildert Pragal seine DDR-Jahre bis zum Mauerfall, den Abschluss bilden Begegnungen danach, etwa mit dem ehemaligen Stasi-Offizier, der ihn maßgeblich überwacht und seine »Informanten gejagt« hatte. Pragal führte im Auftrag des »Stern« jenes Kurt-Hager-Interview, in dem die fatale antisowjetische Bemerkung fiel, man müsse doch keineswegs selber die Tapeten wechseln, nur weil der Nachbar seine Wohnung renoviere. Irr-witzigerweise war diese polternd reaktionäre Äußerung das einzig authentische Beimengsel von Hager, gewissermaßen ein verirrter persönlicher Gedanke in einem ansonsten sterilen Propagandapapier, das von Unterfunktionären zum »Interview« zusammengebastelt worden war. Die übliche Praxis, wenn man mit dem Politbüro ins »Gespräch« kommen wollte. Für diese Praxis machte es übrigens keinen Unterschied, ob man Klassenfeind oder Parteijournalist war.

Im Grunde ist es ein autobiografischer Bericht über viele Dinge, die inzwischen bekannt sein mögen. Die Schikanen der Behörden; die Spitzeleien der Stasi, die sehr weit ins Private griffen, Einbrüche in die Wohnung inklusive; die Schwierigkeit des Reporters, hinter das Geschönte zu gelangen; vor allem aber die Teilung der Gesellschaft ins misstrauische, wachsame offiziöse DDR-Personal und jene zahlreichen Bürger des Landes, die sich tapfer, pfiffig, geduldig durch den Grauschleier schlugen. Und im Klassenfeind einen – Menschen sahen.

Aufschlussreich ist die Tonart. Pragal ist keineswegs ein Freund des Honecker-Systems und seiner »roten Machthaber«, er reportiert ausgiebig, genau und hartnäckig im Kluftgebiet zwischen sozialistischer Proklamation und realer Lage der Bevölkerung. Er HAT sein Bild, das ist seine Haltung, aber er MACHT sich sein Bild, das ist sein Beruf. Wenn in (»seiner« ehemaligen) »Süddeutschen Zeitung« vor wenigen Tagen stand, die Wende habe gezeigt, »dass es dem SED-Staat nicht gelungen war, dem Einzelnen seine Individualität zu nehmen«, so ist das einesteils wahr. Der Weg 1989 auf die Straße muss als Sieg des durchgehaltenen oder plötzlich aus der Verpuppung springenden Eigensinns Vieltausender gedeutet werden – andererseits aber, und das zeigt Pragals Buch, gab es in der Herausbildung selbstbewusster Arbeiter, kritischer Intellektueller, geistig-kulturell reger Leute aller Schichten durchaus eine individuell ausgeprägte Kraft, die dem Staat nicht nur abgetrotzt wurde, sondern Teil seines (mehr und mehr geschundenen) Ideals war.

Pragal entdeckt in einer kontrollmonströsen, durchorganisierten DDR auch den freien Blick, das Wohlgefühl und eine Freude am Leben, die noch nicht unter den Zentralismus des Konsums gekommen war wie unter ein paar große Räder. Der Klassenfeind beschämt durch Anschauung, die von Weltanschauung nicht tendenziös eingefärbt ist.

Aufschlussreich seine Bemerkungen über eine kurze Szene am 7. Oktober 1989 auf dem Alexanderplatz. Volksfeststimmung. Als ein westdeutsches Kamerateam zu filmen beginnt, wagen junge Leute Protestrufe. Die auf sie gerichtete Kamera macht mutig. Die Szene wird zum Rumor, am Ende das bekannte Bild: die rufstarke Palast-Blockade am Spreeufer. Pragal fragt: »Wären die Menschen losgelaufen, wenn kein westliches TV-Team zur Stelle gewesen wäre? Hätten Sie nach Reformen, Freiheit und Demokratie gerufen, ohne dass ihre Parolen von Mikrofonen aufgenommen worden wären?« Mit dieser Frage nimmt Pragal nahezu seherisch eine Feststellung späterer Zeitschreibung vorweg: Die friedliche Revolution in der DDR – eine Bewegung von unten, aber auch ein Anstoß von außen, die Westmedien als Geburtshelfer, und damit, wie die FAS am vergangenen Sonntag schrieb, »ein erster Triumph der Informationsgesellschaft«. Gipfelnd in Hanns Joachim Friedrichs Verkündigung des Mauerfalls in den »Tagesthemen« vom 9. November. Wäre, was Günter Schabowski am frühen Abend auf der Pressekonferenz halbwissend verhuscht hatte, in den Medien anders, vorsichtiger, fragender, diplomatisch vermeldet worden – wer weiß, ob es zum nächtlichen Sturm auf die Bornholmer Straße gekommen wäre …

Geschichten rund um Peter Borgelt und den »Polizeiruf 110«; das Stasi-zerstörte Sportlerleben des Radfahrers Wolfgang Lötzsch; das liebevoll und fürsorglich und größtenteils heiter organisierte eigene Familienleben unter fortwährendem Druck, in diesem Staat ein Fremdkörper zu sein; zugleich das berufsethisch lautere Mühen, im Land, über das man berichtet, wirklich ein Mit-Bürger zu sein – Peter Pragal erzählt spannend, ohne Aufputz, es ist ein sympathisches Buch der Erhellung. DDR-Geschichte auf ganz eigene Art. Der Autor leistet damit zwiefach hervorzuhebende Arbeit: Westdeutschen Lesern könnten seine Erinnerungen helfen, sich aus dem Eingefrorensein in Vorurteile zu lösen, und DDR-Bürgern zeigt er ein Land jenseits der propagandistischen Kulissen und nachträglich wärmenden Legenden. Und dennoch dürften sie ohne Kränkung sagen: Ja, so war es.

Peter Pragal: Der geduldete Klassenfeind. Als West-Korrespondent in der DDR. Osburg Verlag Berlin. 298 S., 19,95 Euro

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