Griechenlands Orthodoxie fürchtet um Einfluss
Kruzifix-Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs forciert Debatte um Rolle der Kirche im Staat
»Nicht nur die Minderheit, auch die Mehrheit hat Rechte«, kommentierte der höchste unter den griechischen Kirchenfürsten, Erzbischof Ieronymos, das Anfang des Monats ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, laut dem Kruzifixe in Klassenräumen das Recht eines Kindes auf Religionsfreiheit verletzen. Zwar gilt der auf eine Klage von Eltern erfolgte Richterspruch zunächst einmal nur für das überwiegend katholische Italien. Die Griechisch-Orthodoxe Kirche befürchtet jedoch, dass der Präzedenzfall von jenen in Griechenland genutzt werden wird, die sich seit langem gegen die Dominanz der orthodoxen Kirche im Land richten.
Ähnlich wie in Italien der Katholizismus ist in Griechenland das orthodoxe Christentum eng mit Staat, Gesellschaft und Tradition verwoben. Die Landesflagge enthält ein weißes Kreuz auf blauem Grund, in der Verfassung ist die Orthodoxie als »vorherrschende Religion« festgeschrieben. Erst vor wenigen Jahrzehnten wurde die standesamtliche Trauung als vollwertige Alternative zur bis dahin vorgeschriebenen kirchlichen Trauung eingeführt, und bis heute wissen nur wenige Griechen, dass Kinder auch ohne Taufe ihren Namenseintrag im Familienregister bekommen können. Schulgebet, Kreuze und Ikonen in jedem Klassenzimmer, aber auch in jedem Gerichtssaal, der vom Erzbischof abgenommene religiöse Eid jeder neuen Regierung gehören zum festen Bestandteil des griechischen Alltags. Kein Wunder also, wenn fast 100 Prozent der alteingesessenen Bevölkerung auf die Frage nach Religionszugehörigkeit mit »griechisch orthodox« antworten. Zumal dies – anders als in Deutschland – keine finanziellen Folgen hat, denn Kirchensteuer ist in Griechenland unbekannt. Alle Angehörigen des Klerus stehen stattdessen auf der Lohnliste des Staates, werden also vom Steueraufkommen aller Bürger bezahlt.
Dabei nutzt die Kirche ihren Einfluss nicht selten auch in weltlichen Angelegenheiten. Bischoff Anthimos von Thessaloniki beispielsweise wird nicht müde zu fordern, Griechenland dürfe dem Nachbarland die Nutzung des Namens Mazedonien auf keinen Fall gestatten. Bei der Erarbeitung eines Gesetzes über eheähnliche Lebensgemeinschaften setzte die Kirche ihre Forderung nach Ausschluss homosexueller Partnerschaften von der Regelung durch. Ein Sprecher der Heiligen Synode, dem höchsten Gremium der Griechisch-Orthodoxen Kirche, bezeichnete in dem Zusammenhang sogar »jede Form einer ehelichen Beziehung außerhalb der überlieferten Eheschließung nach dem orthodoxen Ritus« als »Prostitution«. Und erst vor kurzem wandten sich in der griechischen Presse hochrangige Geistliche gegen die Einführung von Sexualkundeunterricht an Grundschulen.
Den Gegnern von Schulgebeten oder Kruzifixen im Klassenzimmer geht es also nicht nur um die Religionsfreiheit der aufgrund zahlreicher Einwandererkinder mittlerweile recht zahlreichen anders- oder nichtgläubigen Schüler. Linke Parteien, aber auch zahlreiche Institutionen der Zivilgesellschaft drängen vielmehr seit langem auf ein klare Trennung von Kirche und Staat. Das Kruzifixurteil wurde denn auch von der griechischen Gewerkschaft der Grundschullehrer zustimmend kommentiert.
Bei dem Versuch, die Eindämmung des eigenen Einflusses aufzuhalten, geht die Kirchenführung nun bisher ungewohnte Allianzen ein. Während bis heute beispielsweise kein katholischer Papst jemals von Griechenlands Kirchenführern eingeladen wurde – nicht wenige orthodoxe Priester sehen im Papst auch fast tausend Jahre nach der Spaltung eine Personifizierung des Teufels – ruft die Heilige Synode nun alle Christen in ganz Europa auf, sich dem Kruzifixverbot zu widersetzen.
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