Zeit ist Absenz
Ernst Halter: »Jahrhundertschnee«
Zumindest der Hinweis »Roman« auf dem Schutzumschlag von Ernst Halters Text »Jahrhundertschnee« ist irreführend. Der Autor selbst hat seinem Buch den Untertitel »Versuch einer Revision« beigegeben. Damit ist zwar nichts über die Gattung ausgesagt, aber doch eine (Denk-)Richtung angedeutet, in die sich der Leser während (und nach) der Lektüre bewegen kann.
Die Kunst des Erzählens muss alles dürfen, auch das schier Undarstellbare, das Unfassbare zu beschreiben versuchen. Auch wenn sich am Ende dieses Textes nicht alle Stimmen ge- und erklärt haben, nicht alle Nebel gelichtet worden sind, viele lose Fäden unverbunden weiter nebeneinanderhängen, einen deutlichen Eindruck von dem Projekt Halters wird der Leser dennoch gewonnen haben: dass man nämlich die Zeit niemals einholen kann. »Alles sinkt in die Vergangenheit und erfaßt im Wegtauchen den Blick und ergreift das Gefühl. Zeit war Absenz.«
Halters Roman ist ein buntes Kaleidoskop, das nicht mehr und nicht weniger als die Zeit des verflossenen 20. Jahrhunderts aus schweizerischer Perspektive anzuvisieren gedenkt. In einer Vielzahl von Erzählerstimmen und Einzelgeschichten, die wiederum unterbrochen werden durch (fiktive) Reportagen und Berichte, Bildbeschreibungen, diskursive Elemente und essayistische Digressionen, wird die Geschichte des kriegerischen 20. Jahrhunderts geboten. Es werden verschiedene Varianten und Möglichkeiten erwogen und durchgespielt: Geschichte als enzyklopädisches Sprachgeschichtenspiel!
»Das 18. Jahrhundert brachte uns die Aufklärung und die Revolution, das 19. Jahrhundert bescherte dem Bürgertum Industrialisierung, Imperialismus und das ab-strakte Geld. Und was ist mit dem 20. Jahrhundert? Gott weiß, wie vielen Etikettierungen ich begegnet bin. Das Jahrhundert der Weltkriege, der Kernspaltung respektive der Atombombe, des Holocaust, der Flüchtlingsströme, der Totalitarismen, der zum Mittel der Politik erhobenen Unmenschlichkeit, des Kalten Krieges zwischen Ka & Ko, der Blöcke und Blockfreien, der Nationalismen, der Dekolonisierung, des Siegeszuges der Elektrotechnik, des Arbeiters (Ernst Jünger), der Ideologien und der Ideologiedämmerung. Weiteres Nachdenken bringt weitere Schlagworte: Gleichgewicht des Schreckens, Masse und Massenkultur, Herrschaft des Fernsehens, Massenverdummung und so fort.«
Von all dem und viel mehr noch ist bei Halter die Rede. Historische Figuren treten auf, wirkliche Geschehnisse und unwirkliche Personen bilden einen bunten Reigen, in dem sich dann doch immer wieder einzelne Protagonisten und Erzählfäden klarer abheben.
Besonders beeindruckend ist jene in neun Kapiteln als bitterböse Wissenschaftssatire erzählte Geschichte um die fiktive S. A. Thorwaldt-Gesellschaft, anhand von deren Entwicklung seit ihrer Gründung am 21. März 1910 bis zur Auflösung und Neugründung alle Verfehlungen und ideologischen Idiotien deutscher Intellektueller (insbesondere von ganz weit rechtsaußen) nachvollziehbar werden. Dabei ist zu bestaunen, wie es deutschen Denkern und anderen selbsternannten Größen wunderbar gelingt, wenn's ums deutsche Wesen geht, Traditionen passgenau an den herrschenden Status quo zu akkommodieren. (Historische Belege für derartige Entgleisungen finden sich in der Wissenschaftsgeschichte, sagen wir hier nur: der Germanistik, der Philosophie oder Geschichtswissenschaft, zuhauf.) Merke: »Jede Ideologie gehorcht einer Idioten-Logik. Jeder Glaube ist eine Tat, und jeder Gläubige trägt in sich den Täter.«
Ernst Halter: Jahrhundertschnee. Roman. Ammann Verlag. 448 S., geb., 22,95 €.
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