»Ein Genie werdender Wirklichkeit«

Heute wäre der große deutsche Publizist und Entspannungspolitiker Günter Gaus achtzig Jahre geworden

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Deutschlands berühmtester Hinterkopf
Deutschlands berühmtester Hinterkopf

Als Günter Gaus im Jahre 1993 dem ND ein Interview gab, schrieb der Berliner »Tagesspiegel« Klartext: »Wer einen Verbrecher lange kennt, verliert oft die Fähigkeit, in ihm das Böse zu sehen. Kaum eine Ehefrau, die nicht zu ihrem Mann hielte, wenn er als Serienkiller entlarvt wird. Kein Fall, wo sich jemand von einem Diktator aufgrund dessen Grausamkeiten hat scheiden lassen. Und so muß es auch Günter Gaus irgendwann erwischt haben während seiner siebenjährigen Amtszeit als Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR. Je näher er den kommunistischen Machthabern kam, desto näher wurden sie ihm. Bis sich das Verhältnis schließlich in eine unheimliche Liebesgeschichte verwandelte. Als den Westdeutschen, der ›die stimmigsten DDR-Psychogramme schrieb‹, lobt ihn dafür das ›Neue Deutschland‹ bis heute. Gaus revanchiert sich mit Interviews« (24. Juli 1993).

Diese Sätze und ihr nicht zufällig gewähltes hanebüchenes Assoziationsfeld (Verbrecher, Serienmörder, Diktator) hoben freilich eine Lebensleistung genau da hervor, wo sie dieser Leistung ans Zeug wollten. Da hatte ein Kommentator just das Undogmatische, das Offene, das Zuwendungsbereite, das hochanständig Unideologische an Gaus erkannt und ihn also verstanden. Denn Gaus war präzise, er mochte die Wirkung seines Journalismus nicht auf Missverständnisse begründen, also drückte er sich so brillant aus, dass Gegner möglich und kenntlich wurden.

Was er sagte und schrieb, waren Positionsbestimmungen eines Einzelgängers, obwohl er den Großteil seines Lebens nicht wenigen Leuten vorstand (Programmdirektor beim Südwestfunk, Chefredakteur des »Spiegel«, Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Ständiger Vertreter (im übrigen: bei, nicht in der DDR), Senator in Westberlin). Skepsis hielt ihn lange vor unmittelbarem politischem Parteigang ab. Nachdem er aus Gründen bürgerlicher Loyalitätskultur doch in die SPD eingetreten war (ein Mann im Dienste Willy Brandts), trat er wegen sozialdemokratischer Bereitschaft zu neuer deutscher Kriegsbeteiligung 2001 wieder aus. Er war ein »konservativer Anarchist, ein linker Traditionalist« (Matthias Greffrath).

Eine unheimliche Liebesgeschichte mit den Kommunisten? Der Braunschweiger Kleinkaufmannssohn war von solchem Verhältnis entfernt wie kein Zweiter. Nur achtete er die Konsequenz aus eigener Metaphorik. Wer schon im Abituraufsatz feststellt, die einzige Münze, mit der in der Welt gehandelt werde, sei der Mensch, der behält auch später in Kopf und im Gemüt, dass Münzen in die Tasche gesteckt, weggeworfen, leichtfertig verloren, umgeschmolzen, durch Währungsreformen getrieben, meist entwertet werden – der Mensch in der Geschichte: eine Verhandlungsmasse derer, die genug zu haben meinen. Gaus repräsentierte so den tragischen Bürger der Moderne, der den Ursprungsauftrag einer aufklärerischen, aber dann ebenfalls moralisch absinkenden Klasse nicht vergessen kann, der also etwas (weiter-)leben will, das man aber allein nicht zu leben vermag: ausstrahlendes Bildungs-Bürgertum, das aus der Gnade der eigenen Elite-Existenz eine soziale, ethische Verantwortung für die Wohlfahrt der Gemeinschaft, der Menschenschaft der Gemeinen, ableitet.

Das setzt keine Mitgängerschaft im proletarischen Zug voraus (und also keinen Glaubenskommunismus), aber sehr wohl Fein-Fühligkeit in die Richtung der vermeintlich Geringen. Gaus hat in seiner Philosophie, die er in die Fragen von Hunderten Fernsehinterviews »Zur Person« kleidete (ein deutsches Geschichts- und Gesichterlesebuch unerreichbar eigener Art), nie einen Hehl daraus gemacht, nicht zu den Schwächeren zu zählen, vor Mehrheiten lieber zurück- und allen ideologischen Erlöserkompanien strikt auszuweichen – aber er hat nie den kleinen hohen Denkzirkel, die Freiheit intellektueller Befriedigungen über das Durchkommensbedürfnis der vielen Abhängigen und also Schwächeren gesetzt. Denen die sozialen Grenzziehungen und also fehlender Handlungsspielraum oft genug und nachhaltiger als aushaltbar das Ausleben von Freiheiten behindert. Nie konnte er sich mit dem revolutionären Erziehungsfuror der Achtundsechziger anfreunden, die Betrachtung des Arbeiters als Schulungswesen lehnte er ab, und so konnte ihm auch nicht widerfahren, was ach so klugen DDR-Köpfen nachgesagt werden muss: Erst jubelten sie einen bevölkerungstragenden Teil der Masse hoch zur führenden Klasse, zum geschichtlichen Subjekt – um später aus diesem Extrem der Aufwertung in die rüde Abfälligkeit zu wechseln, gegenüber einer Menge, die Bananen statt Sozialismus wählte.

Gaus wusste, dass gerade die sogenannten einfachen Menschen stets mit kompliziertesten Verhältnissen zu kämpfen haben, und seine frei und souverän getragene Tragik bestand darin, Bürger bleiben zu wollen – in einer Gesellschaft freilich, in der das Bürgerliche zunehmend in jenes arrogante Oben wuchs, das die Beziehungen zum sozialen Unten ebenfalls in die Herab-Lassung gleiten ließ. Am Ende dieser Verwandlung steht die Umkehrung des Begriffes »Sozialstaat« von einer idee- und geldgestützten Tugend in eine abschätzige Vokabel für Beihilfe zum Parasitentum der Unterschichtler.

Gaus, sähe er heute auf diese Bundesrepublik, würde mehr und mehr jene bittere, traurige, verzweiflungssteigernde Genugtuung empfinden, die richtigen Ahnungen in treffliche Worte gefasst zu haben. Der leidige Lohn des Vorhersagers, recht haben zu – müssen. Der Bürger verschwand in Schröders Neuer Mitte, wo sich die kühlen Gewinnler ihre Wohlstandsghettos auspolstern. »Fugenlos werden die Bedürfnisse des Kapitals gleichgesetzt mit den Idealen der Demokratie.« Es ist die Zeit der SPD-geführten Regierungsmacht, in der Gaus in hochintelligenten Kommentaren im »Freitag« (er war einer von dessen Herausgebern) und in der »Süddeutschen Zeitung« (Rückkehr zu seiner reporterischen Universität) zum gedankenklaren Chronisten sozialdemokratischer Verlustanzeigen wurde.

Dass viele Ostdeutsche, »dies Staatsvolk der kleinen Leute«, nach dem Ende des Arbeiter- und Lauerstaates mit dem System gleich- und kalt zurückgesetzt wurden ins Unmoralische, Mitläuferische, und er, ihr Sympathisant, sich ins Stalinismusfreundliche gerückt sehen sollte – es hat ihn verletzt, aber seine Streitkraft befeuert. So wie er einst, zu »Spiegel«-Zeiten, die eingeübten, berufsprinzipiellen Oppositionsreflexe zahlreicher Kollegen gegen Brandts Ostpolitik als das Gegenteil dessen bezeichnete, was sie sein wollten, nämlich eine »apolitische Grundhaltung« – so sah er nun, im Abwerten ostdeutscher Erfahrungen, »eine wohlstandskalte Arroganz des herrschenden Bewusstseins«.

Heiner Geißler nannte ihn nicht nur den »unangenehmsten Journalisten, immer liebenswürdig, aber Fragen scharf wie die Schnitte eines Chirurgen«, sondern schrieb auch: »Er war in der deutschen Frage ein Genie der werdenden Wirklichkeit.« Oskar Negt fand in den Gaus-Interviews nie »den skandalträchtigen Umkreis intimer Entblößungen, sondern den Citoyen, den öffentlichen Menschen in seinen Charakterprägungen«. Und Monika Maron bezeichnete die Empfänge der Ständigen Vertretung für Künstler der DDR unter Gaus als Feste großen Verständnisses für die »eher slawischen Feiergewohnheiten der Geladenen«; wenn das Protokoll dem »trunkenen Treiben« ein Ende setzen wollte, habe der Chef kategorisch einen Whisky bestellt.

Oft hat er in Hamburg gemeinsam mit Rudolf Augstein das Grab Bismarcks besucht. Augstein stand am Kanzlergrab, Gaus indes ging zum Sohnesgrab, der war Leiter des Auswärtigen Amtes und beim Rücktritt des Vaters loyal zurückgetreten. Alexander Kluge: »Das zeigt die Akzente, die Gaus setzte: Unauffälligkeit und Dauerhaftigkeit.« Gaus selber sagte: »Mehr Sein als Scheinen.« Er war geistreich, lästermaulfleißig; er genoss den Rotwein und Aufenthalte im Reitersattel; er und seine Frau Erika waren wunderbare Gastgeber; Tochter Bettina, politische Korrespondentin der taz, war ihm eine kluge, im Gegen-Wort besonnende Wider-Partnerin.

Bettina Gaus hat im Nachwort zu den Erinnerungen ihres Vaters am Beispiel der Mühen, eine Begnadigung Christian Klars zu erwirken, den Leitgedanken für Gaus’ unvergessliche Interviews und die maßstabsetzende journalistische Kultur formuliert, die eine Kultur des unbedingt Humanen war: »Er interessierte sich für ein Thema, er sah eine berufliche Herausforderung – und er fand einen Menschen.«

In einem Fragebogen hat er auf die Antwort, wie er sterben wolle, geantwortet: »Gesund.« Es gelang ihm nur diese Ironie, nicht das Leichte der letzten Reise. Er starb 2004 am hartnäckigen, sich heimtückisch verschanzenden Krebs. Heute wäre der große Publizist Günter Gaus achtzig Jahre alt geworden.

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