Ein übergestülpter Erfolg?

Symposium an Berlin-Brandenburgischer Akademie zur Vereinigung in der Wissenschaft

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Wende von 1989 veränderte auch den Wissenschaftsbetrieb der DDR von Grund auf. Doch die wohl tiefgreifendste Veränderung ergab sich aus dem von der 1990 neugewählten Volkskammer beschlossenen Beitritt zur Bundesrepublik. Ein Symposium an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) versuchte sich am Dienstag und Mittwoch an einer Bilanz von »Wissenschaft und Wiedervereinigung«.

Im Herbst 1989 rumorte es auch an den Hochschulen und Akademie-Instituten der DDR. Die Mehrzahl der Wissenschaftler und Studenten wollten ein Ende der Bevormundung durch die SED. So versammelten sich am 10. November 1989 tausende Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR auf dem damaligen Platz der Akademie (Gendarmenmarkt), um den Rücktritt des bisherigen Präsidenten und ein Ende der Einflussnahme der SED-Kreisleitung in den Instituten zu fordern. Wenige Tage später stimmte die überwältigende Mehrheit der Studenten an der Berliner Humboldt-Universität für die Einrichtung eines unabhängigen Studentenrates. In den nächsten Monaten wurden neue Universitätsstatuten entworfen, diskutiert und beschlossen, alte Rektoren und Institutsdirektoren abgesetzt und neue gewählt. Doch die Aufbruchstimmung jener selbstbestimmten Umwälzung wich nach der Vereinigung zunehmend dem Gefühl, von Akteuren wieder zu Objekten zu werden, konstatierte der damals an der Akademie forschende Mitbegründer der Ost-SPD Wolfgang Thierse bei der Auftaktveranstaltung des BBAW-Symposiums. »In den Gremien dominierte der Westen.«

Was der Vereinigung folgte, war nicht nur in der Wirtschaft selten das, was sich die Initiatoren der Umwälzungen im Herbst 1989 erhofft hatten. Das Ende weiter Teile der DDR-Industrie sorgte dafür, dass die Zahl der dort in Forschung und Entwicklung Tätigen um mehr als 80 Prozent schrumpfte. Der Personalabbau in der außeruniversitären Forschung, hauptsächlich bei den Instituten der Akademien, war mit 60 Prozent ebenfalls erheblich, wie der Wittenberger Hochschulforscher Peer Pasternack berichtete. Letzteres traf insbesondere Berlin und die drei sächsischen Bezirke, da sich dort die Hälfte der Akademieinstitute befand. Pasternack wies darauf hin, dass diese Zahlen nicht das ganze Problem der ostdeutschen Wissenschaftler reflektieren. Denn die Statistiken erfassen nur die Zahl der Stellen. Doch da der größte Teil der Stellen an den Hochschulen und praktisch alle an den neugegründeten Instituten der Blauen Liste (Heute Leibniz-Gemeinschaft), der Fraunhofer- und Max-Planck-Gesellschaft neu ausgeschrieben wurden, ist die Zahl der tatsächlich im Wissenschaftsbetrieb verbliebenen DDR-Forscher noch geringer, meint der Hochschulforscher.

Wenig besser sah es an den Hochschulen aus. Trotz mehrerer Neugründungen hat es zwischen 1989 und 1994 absolut einen größeren Personalabbau an den ostdeutschen Hochschulen gegeben als 1933 und 1945 zusammen, konstatiert der in Wien lehrende US-Historiker Mitchell Ash. Die Nachwende-Präsidentin der TU Ilmenau und langjährige Wissenschaftsminsterin Thüringens Dagmar Schipanski bemängelt insbesondere den Abbau beim akademischen Mittelbau. So sei die Zahl der Stellen an den Hochschulen Thüringens von 1990 bis 2001 von 7500 auf 5100 gesunken, während die Studentenzahl von 13 500 auf 40 000 explodiert ist. Der Personalabbau und die Umwandlung der Mehrzahl der Stellen im Mittelbau in befristete Stellen hat überdies auch einen höchst zweifelhaften Einfluss auf die Kultur der Forschung, meint der Molekularbiologe Jens Reich. Seien Forschungsgruppen in der DDR noch eine Art Lebensgemeinschaft gewesen, so seien sie heute »zeitweilige Söldnertrupps«.

Angesichts dieses Teils der Bilanz der Vereinigung in der Wissenschaft stellte sich den verschiedenen Diskussionsrunden der Tagung natürlich die Frage nach dem Erfolg und den Perspektiven. Die Ansichten dazu waren dann erstaunlich wenig kontrovers. Bis auf zwei Podiumsgäste sahen eigentlich alle Redner der insgesamt fünf Diskussionsforen in der Vereinigung der beiden Wissenschaftslandschaften nur einen Erfolg mit Einschränkungen. So war man sich vom West-Historiker Jürgen Kocka bis zum bekennenden marxistischen Ökonom Dieter Klein einig, dass es unter den gegebenen Bedingungen einer von der Bevölkerungsmehrheit gewünschten schnellen deutschen Vereinigung keine realistische Alternative zur Übernahme des westdeutschen Wissenschaftssystems gegeben hatte. Insofern habe es durchaus ein »Überstülpen« des Westsystems gegeben, bekundete der Gründungsdirektor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin Berlin-Buch, Detlev Ganten. Dennoch – das verdeutlicht ein Vergleich zur Situation der Wissenschaft in Ungarn oder Polen – sei der Osten Deutschlands mit diesem Wege noch vergleichsweise gut gefahren.

Die aktuellen Proteste der Studenten allerdings zeigen, dass zumindest an den Hochschulen deutschlandweit ein dringender Reformbedarf besteht. Die sind – da war selbst der sonst mit dem Ablauf der Umgestaltung der Ost-Wissenschaft so zufriedene Berliner Ex-Senator Manfred Erhardt sich mit dem Rest des Podiums einig – krass unterfinanziert. Und ein weiterer Anhänger der Abwicklung der Ost-Institutionen, der Chemie-Professor und Kanzlerin-Gatte Joachim Sauer, kritisierte implizit gar eine Parteifreundin seiner Frau. Er bezweifelte, ob die Exzellenzinitiative von Bildungsministerin Anette Schavan das »Allerweiseste« gewesen sei. Wie es allerdings weitergehen soll, da gab es auch beim Symposium wenig Einigkeit. Setzen Erhardt und Wissenschaftsratspräsident Peter Strohschneider auf eine stärkere Differenzierung in Eliteuniversitäten à la Harvard, so fürchtet Pasternack mit Blick auf die sinkende Bevölkerung und das absehbare Ende der Finanztransfers für 2020 das Austrocknen mancher Osthochschule und manchen Leibniz-Instituts mangels Finanzierung.

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