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- Internationaler Tag der Menschenrechte
2009 – ein Jahr der verpassten Chancen
Gespräch mit Monika Lüke, Generalsekretärin der deutschen AI-Sektion
ND: Traditionell wird am Internationalen Tag der Menschenrechte auch der Friedensnobelpreis in Oslo verliehen. Die Preisträgerin des Jahres 1997, die US-amerikanische Anti-Minen-Aktivistin Jody Williams, findet die diesjährige Ehrung ihres Präsidenten Barak Obama »grundsätzlich problematisch«. Sie auch?
Lüke: Die Verleihung erhöht den Anspruch, den Obama an sich selbst gesetzt hat, aber sie vergrößert natürlich auch die Möglichkeiten, diesen Ansprüchen nicht zu genügen. So hat der Friedensnobelpreisträger die Chance verpasst, das Gefangenenlager Guantanamo, das Symbol schlechthin für Menschenrechtsverletzungen im Kampf gegen den Terrorismus, zu schließen. Und auch wenn der Präsident einiges für die Verbesserung der Menschenrechtslage in den USA getan hat, darf man nicht vergessen, dass Obama ein Befürworter der Todesstrafe ist.
Stichwort Afghanistan: Obama kommt als »Kriegspräsident« nach Oslo, er will den Einsatz am Hindukusch eskalieren, was ja auch Auswirkungen auf die Menschenrechtslage dort hat.
Schon jetzt ist beispielsweise die Situation der Insassen in den US-amerikanischen Haftzentren in Afghanistan menschenrechtlich unerträglich. Und die Frage, wie viele Truppen für wie lange nach Afghanistan geschickt werden sollen, geht für mich am eigentlichen Problem vorbei. Laut UN-Mandat soll die Sicherheit der afghanischen Bevölkerung erhöht werden, so steht es auch im Bundestagsbeschluss für die deutschen Truppen. Sicherheit erfordert aber vor allem den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und die Durchsetzung der Menschenrechte für die Bevölkerung. Dazu hat sich auch die afghanische Regierung verpflichtet. Doch kommt dieser Punkt in den Debatten meist viel zu kurz. Hier drohen sowohl die afghanische Regierung als auch die internationale Gemeinschaft zu scheitern.
Auch Deutschland befindet sich am Hindukusch im Krieg. Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung bei der Wahrung des humanitären Völkerrechts?
Ein ganz klares Bekenntnis dazu, dass für deutsche Soldaten, wenn sie im Ausland im Einsatz sind, Grundgesetz und Grundrechte gelten müssen. In Afghanistan scheint das nicht immer der Fall zu sein, wenn wir nur an die Bombardierung der Tanklastzüge im Raum Kundus denken. Oder nehmen Sie die Festsetzung von Kombattanten. Das Grundgesetz fordert, dass jeder Gefangene innerhalb von 48 Stunden einem Richter vorgeführt werden muss. Das ist ja möglicherweise unter Kriegsbedingungen unrealistisch. Und solange die afghanischen Behörden foltern, dürfen Gefangene auch nicht an sie übergeben werden. All diese Probleme werden zur Zeit auf den Rücken der Soldaten ausgetragen. Solange es kein Bundesgesetz im Rahmen des humanitären Völkerrechts gibt, das die Eingriffsbefugnisse bei Auslandseinsätzen klar regelt, befinden sie sich in einer schwierigen Situation.
Wie vielfältig die Menschenrechtsprobleme sind, zeigt sich heute auch auf dem EU-Gipfel. Er soll das »Stockholmer Programm« für eine neue europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik verabschieden. Amnesty hat es scharf kritisiert. Warum?
Dieses »Stockholmer Programm« ist eine verpasste Chance, in den EU-Mitgliedstaaten endlich eine moderne, menschenrechtsgemäße Migrations- und Flüchtlingspolitik zu verankern. Stattdessen geht es auch hier um Abschottung. Zwar wird die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitstaaten festgeschrieben, aber dabei außer Acht gelassen, dass sich etwa die Staaten Nordafrikas weder zum internationalen Flüchtlingsrecht bekennen noch in der Praxis Menschenrechte ernst nehmen. So akzeptiert die EU, dass Flüchtlinge in Staaten abgeschoben werden, in denen ihnen Folter und Menschenrechtsverletzungen drohen. Sie hat eine Mitverantwortung dafür, dass Flüchtlinge im Mittelmeer umkommen, dass sie keinen Zugang zu einem fairen Asylverfahren in Europa haben.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat in seiner Erklärung zum Menschenrechtstag darauf hingewiesen, dass es heute kein Land gebe, das frei von Diskriminierung sei. Welche Probleme sehen Sie in Deutschland?
In Deutschland gibt es beispielsweise wie in anderen europäischen Ländern eine Bevölkerungsgruppe, die massiver Diskriminierung ausgesetzt ist: die Roma. Sie leben auch hierzulande häufig in prekären Verhältnissen. Und es ist völlig unverständlich, dass die Innenminister der Bundesländer bereit sind, Roma nach Kosovo abzuschieben, obwohl sie genau wissen, dass ihnen dort als Minderheit schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, dass sie Pogrome fürchten müssen, dass sie ihre Kinder nicht ordentlich in die Schule oder zum Arzt schicken können. Im Lichte der Menschenrechte hätte es für die Innenministerkonferenz in der vergangenen Woche nur eine Entscheidung geben dürfen – einen Abschiebestopp.
Wenn man Ihre Antworten zusammenfasst, drängt sich ein Fazit auf: 2009 war in Sachen Menschenrechte ein Jahr der verpassten Chancen.
Leider ist es so. Ob nun die Schließung Guantanamos oder die EU-Asylpolitik, es wurde versäumt, wichtige Zeichen zu setzen.
Welche Schwerpunkte wird Amnesty International in seiner Arbeit im nächsten Jahr setzen?
In allen hier angesprochenen Punkten müssen und wollen wir weiter Einfluss nehmen und etwa daraufhin wirken, dass Guantanamo schnell geschlossen wird. Hier sollte auch die Bundesregierung endlich ihren Beitrag leisten und Häftlinge aufnehmen. Wir wollen, dass beim Kampf gegen den Terror die Menschenrechte eingehalten werden und insbesondere das Folterverbot allumfassend gilt. Und nicht zuletzt wird es uns darum gehen, dass die Menschenrechte jener stärkere Beachtung finden, die am Rande der Gesellschaft stehen – beispielsweise die Milliarde Menschen, die derzeit in Slums leben und die täglich fürchten müssen, selbst diese elende Existenz durch staatliche Zwangsvertreibungen zu verlieren.
Hintergrund
Heute wird weltweit der Tag der Menschenrechte begangen. Er erinnert an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der UN-Vollversammlung im Pariser Palais de Chaillot verabschiedet wurde. Mit über 300 Sprachfassungen gehört sie zu den meistübersetzten Texten. Eleanor Roosevelt, damals Präsidentin der Kommission für Menschenrechte, hatte den Entwurf formuliert. Entstanden unter dem Eindruck von faschistischem Terror und 2. Weltkrieg, ist diese Charta das ausdrückliche Bekenntnis der Vereinten Nationen zu den allgemeinen Grundsätzen der Menschenrechte. Neue Mitglieder akzeptieren sie automatisch mit ihrem UN-Beitritt.
Obwohl völkerrechtlich nicht bindend, setzt die aus 30 Artikeln bestehende Deklaration international Normen für unveräußerliche Grundrechte und Freiheiten, die jedem Menschen zustehen, »ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand«. Dazu gehören das Recht auf Leben, auf Glaubens-, Presse- und Meinungsfreiheit sowie der Schutz vor Folter und willkürlicher Haft. Auch soziale Menschenrechte wie das auf Arbeit, Nahrung und Wohnung sind festgehalten.
Diese Grundsätze fanden ihre Widerspiegelung in internationalen Verträgen wie dem Pakt über bürgerliche und politische Rechte oder dem Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, Abkommen gegen Folter, Menschenhandel und Rassendiskriminierung. Auch der Schutz von Frauen- und Kinderrechten ist in Konventionen vereinbart. Menschenrechte sind in Verfassungen vieler Staaten verankert. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen soll über ihre Einhaltung wachen, mit dem Internationalen Strafgerichtshof gibt es ein ständiges Tribunal, das Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord ahnden kann. Organisationen wie Amnesty International nehmen diesen Tag zum Anlass, um die Menschenrechtslage weltweit kritisch zu analysieren.
Olaf Standke
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