Wenige Kilometer von der fernen Heimat
Hunderttausende Flüchtlinge, verminte Landstriche und ungeduldig werdende Militärs 15 Jahre nach dem Konflikt um Berg-Karabach
Einsam hütet ein Hirte auf einer Anhöhe in der kargen Gegend von Zobucq seine Schafe. Das Gebiet ist unwirtlich. Fernab von den fruchtbaren Tiefebenen Aserbaidshans, viele Fahrstunden entfernt von der Hauptstadt Baku.
Zobucq in der Provinz Fizuli umfasst fünf Siedlungen. Hier leben Flüchtlinge, die 1993 während des Krieges um Berg-Karabach ihre Heimatprovinzen verlassen mussten. Die Häuschen der Flüchtlingssiedlungen sind relativ modern, jedes hat einen kleinen Garten, in den meisten wächst ein wenig Mais. Wenige Kilometer entfernt verläuft die ehemalige Front. Dahinter liegen die von Armenien besetzten Provinzen Aserbaidshans, eingeschlossen Bergkarabach
Tatenlos in unwirtlichem Gebiet
Cechran Khudawerdi und einige Männer stehen vor einem der Siedlungshäuser von Zobucq. Khudawerdi und seine Kollegen arbeiteten in der Sowjetzeit als Lehrer, Journalisten, Regierungsangestellte, in Sowchosen oder Kolchosen. Hier in Zobucq müssen sie taten- und arbeitslos ausharren. In dieser Gegend gibt es nicht viel zu tun. Immerhin werden die Flüchtlinge finanziell unterstützt. Die Männer stammen aus den besetzten Provinzen, nur wenige Kilometer jenseits der Demarkationslinie. »Wir sind bereit zurückzukehren. Wir möchten wieder die Gräber unserer Urahnen besuchen. Wenn sie das Friedensabkommen unterzeichnen, wären wir bereit, mit den Armeniern zusammen zu leben«, sagt Khudawerdi.
Als Anfang der 90er Jahre der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidshan um das mehrheitlich armenisch besiedelte, aber völkerrechtlich zu Aserbaidshan gehörige Gebiet Berg-Karabach wütete, rückten armenische Truppen weit ins Innere des Nachbarlandes ein und besetzten sieben weitere Provinzen. 40 000 Menschen starben. Wie Chechran Khudawerdi mussten rund 800 000 Aserbaidshaner fliehen. 300 000 Armenier nahmen den Weg in die andere Richtung unter die Füße. Aserbaidshan sah sich plötzlich mit einer riesigen humanitären Aufgabe konfrontiert. Über das gesamte Staatsgebiet verteilt wurden zunächst Zeltlager errichtet, Schulen und Turnhallen umgenutzt. Nach und nach wurden die Zeltlager durch 61 Häusersiedlungen ersetzt.
Die Nacht ist über der Provinz Fizuli hereingebrochen. In einem Gebäude der Minenräumgesellschaft Anama in Horadiz sitzt Ramasan Heydarow an einem Tisch und trinkt Tee. »Ich habe keinen Computer und keinen Fernseher. Ich will von all der Gewalt in der Welt nichts mehr sehen. Wenn ich denke, was sich Menschen alles antun, bin ich zufrieden, mit Hunden zu leben«, sagt er. Heydarow betreut 32 Minensuchhunde. Zuvor führte er Drogenspürhunde auf dem Flughafen von Baku. Und in den 80ern diente er in Afghanistan. »In einem Spezialkommando« – weiter geht er darauf nicht ein.
Minenfelder und Kampfgebiete
Am Morgen darauf bei den Flüchtlingssiedlungen von Zobucq. »Wir unterscheiden zwischen Minenfeldern und Kampfgebieten«, erläutert Habil Babayew. Er ist Gruppenführer bei der Minenräumgesellschaft. Seine Männer sind draußen bei der Arbeit. Sie suchen die Felder nach Minen und Blindgängern ab, »damit das Gebiet für Landwirtschaft genutzt werden kann«. In einem Bereich suchen die Männer mit Metalldetektoren, im zweiten Feld pflügt sich ein ferngesteuerter Metallkoloss 20 Zentimeter in den Boden. Der Maschinenführer steht etwa 150 Meter entfernt, um bei einer Detonation nicht getroffen zu werden. Verrostete Granaten und Panzerminen sind in einem separaten Sektor deponiert. Im Hintergrund steht ein Ambulanzwagen. »Wie lautet Ihre Blutgruppe?«, will Babayew zur Sicherheit wissen. Werden Minen oder Blindgänger gefunden, werden sie möglichst an Ort und Stelle zur Explosion gebracht. Die Nachkontrolle übernehmen die Suchhunde.
Die Gesellschaft Anama, 1998 gegründet, beschäftigt mehr als 500 Leute. Die Aufgabe ist immens und wird noch viele Jahre dauern: Von 305 Quadratkilometern Aserbaidshans, die verseucht sind oder waren, sind erst 78 Quadratkilometer geräumt. In Berg-Karabach und den anderen besetzten Provinzen rechnet man mit weiteren 350 bis 800 Quadratkilometern.
Zurück in Baku. Ali Hasanow ist Vorsitzender der Flüchtlingskommission Aserbaidshans. Stattlich, grau meliert, mit dicken schwarzen Augenbrauen erinnert er an den früheren sowjetischen Staatsführer Leonid Breshnew. »Ich arbeite seit 41 Jahren in ähnlichen Funktionen«, beginnt Hasanow das Gespräch und hält zunächst einen 20-minütigen Monolog über die Psychologie der Armenier, die er für fremdgesteuert hält. Dann aber kommt er zum Thema. »Das Thema der Flüchtlinge betrifft meine Familie selber. Meine Eltern mussten fliehen«, erzählt er. Insgesamt 1,3 Millionen Flüchtlinge lebten derzeit in Aserbaidshan. »Bei den ersten Unruhen zwischen 1988 und 1992 kam es zu einer ersten Flüchtlingswelle von 250 000 Aserbaidshanern, die in Armenien wohnten«, sagt Hasanow. Wegen des Krieges um Berg-Karabach und der Besetzung mehrerer umliegender Provinzen durch armenische Truppen und Paramilitärs flohen weitere 600 000 Menschen ins Landesinnere. »Die internationale Gemeinschaft ließ uns mit dem Problem alleine, nur Hilfsorganisationen halfen uns zunächst.« Da die Betroffenen innerhalb des eigenen Landes flohen, gelten sie nach internationalen Kriterien nicht als Flüchtlinge, sondern als »Internally displaced persons«, kurz IDP. »Das Problem ist, dass die UNO-Konventionen nur Flüchtlinge betreffen, nicht aber IDPs. Doch 70 Prozent der Geflüchteten weltweit sind IDPs«, weiß Hasanow.
»Langsam verlieren wir die Geduld«
General Ramiz Nadjafow ist im Verteidigungsministerium zuständig für internationale militärische Zusammenarbeit. Bereits 1994, im Jahr des Waffenstillstandsabkommens mit Armenien, unterzeichnete der damalige aserbaidshanische Präsident Heydar Alijew den Vertrag über die »Partnerschaft für den Frieden« mit der NATO. General Nadjafow betont die gut funktionierende Kooperation mit dem Militärbündnis. Im Zuge dieser Zusammenarbeit habe man die eigenen Streitkräfte modernisiert und auf NATO-Niveau gebracht. 1200 Offiziere durchlaufen die NATO-Ausbildung. »Wir lernen von den führenden Nationen«, sagt der General.
Derzeit stehen 65 000 Soldaten an den etwa 1000 Kilometer langen Grenzen zwischen Armenien und Aserbaidshan. Täglich gebe es Schusswechsel an der Demarkationslinie. »Scharfschützen, keine schweren Waffen«, bemerkt Nadjafow. Man lasse sich nicht provozieren, doch: »Unsere Armee ist nicht mehr die von 1993. Wir haben neue Waffensysteme, sind stärker. Wir sind in der Lage, diese Mission zu erfüllen.«
Mit »dieser Mission« meint er die Befreiung Berg-Karabachs und der umliegenden Provinzen. Seit 15 Jahren werde der Karabachkonflikt im Rahmen der sogenannten Minsker Gruppe der OSZE erörtert – ohne konkrete Ergebnisse. Sein Land habe alles Recht, seine territoriale Integrität wiederherzustellen. »Es gibt mehrere UNO-Resolutionen, die Armenien zum Verlassen dieser Gebiete auffordern. Doch der Druck der internationalen Gemeinschaft ist zu gering«, sagt er. Auch Nadjafow hält die diplomatischen Mittel zwar für noch nicht ausgeschöpft. »Aber in der Realität verlieren wir langsam die Geduld.« Man habe die Möglichkeiten, die Gebiete innerhalb kurzer Zeit zu befreien, sagt der General.
»Nicht weitere 15 Jahre Diskussionen«
Ähnlich sieht das Elchan Polukhow, Sprecher des aserbaidshanischen Außenministeriums. Man sei bereit für weitere Verhandlungen, behalte sich aber das Recht vor, alle Mittel auszuschöpfen, auch die militärischen: »Potenzial für die Diplomatie ist noch vorhanden. Aber wir werden kaum noch einmal 15 Jahre weiter diskutieren.« Aserbaidshans Angebot stehe: höchstmögliche Autonomie für Berg-Karabach innerhalb Aserbaidshans. So wie die Exklave Nachitschewan würde Karabach ein regionales Parlament erhalten und könnte in Baku ein Verbindungsbüro betreiben. »Wir würden auch finanzielle Investitionen in Armenien selber tätigen«, sagt Polukhow.
Zuerst aber müssten die armenischen Truppen aus den besetzten Gebieten um Karabach zurückgezogen und die Verkehrsverbindungen wieder hergestellt werden. Friedenstruppen der UNO oder der OSZE sollten die Rückkehr der aserischen Flüchtlinge in ihre Heimat überwachen und ein friedliches Zusammenleben von Armeniern und Aserbaidshanern sichern. »Auch wenn wir verstehen, dass die Vermittler eine neutrale Position einnehmen müssen: Wir wollen, dass sie die Sache beim Namen nennen: Es handelt sich um eine Aggression und um die Okkupation durch Armenien«, stellt er fest.
Und dann erzählt Polukhow eine Begebenheit, die von ausländischen Medien gänzlich ignoriert wurde: 2007 und 2009 hat der in Moskau stationierte aserbaidshanische Botschafter von aserbaidshanischer Seite aus Berg-Karabach besucht und ist weiter zu Gesprächen nach Jerewan gefahren. Es mag ein symbolischer Schritt sein, doch die Zugeständnisse Aserbaidshans sind signifikant. Andererseits ist eine Eskalation dieses Konflikts im Südkaukasus nach wie vor nicht auszuschließen.
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