Tür zur sternenklaren Nacht

José Saramago entzückt mit seiner kleinen Autobiografie

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Allegorische Texte haben den Portugiesen berühmt gemacht, Lehrstücke, die an Kafka erinnern. In diesen Gleichnissen artikuliert José Saramago, Nobelpreisträger 1998, sein Unbehagen über den Stand der Zivilisation. Erinnert sei an »Die Stadt der Blinden« und »Die Stadt der Sehenden«. Zuletzt: »Eine Zeit ohne Tod«. Im Zentrum dieser Parabeln steht ein »Unfall« im Gefüge des modernen Staates – alle Menschen erblinden plötzlich, oder: Keiner geht mehr zur Wahl –, ein »Unfall«, der den alten Konflikt wieder beschwört: Gesellschaft contra Individuum. Und unter der dünnen Schminke der Demokratie zeigen sich diktatorische Züge.

Parallel zu diesen düsteren Utopien wuchs ein zweites Werk, ein Konvolut aus betont persönlichen Prosastücken. Hier – in Reiseberichten und autobiografischen Erkundungen – zeigt der Feingeist, dieser herausragende Zeitkritiker, ein fast naives Weltbild. Das neue Buch gehört zu dieser Gruppe.

»Kleine Erinnerungen«, das sind Mosaiksteinchen für ein Selbstporträt. »Klein«, weil es ein schmales Opus wurde und Saramago darin nur seine Kindheit und Jugend beschreibt. Geboren wurde er 1922 im Dörfchen Azinhaga, nordöstlich von Lissabon. Knapp zwei Jahre hat er hier gelebt. Der Vater war Landarbeiter, die Familie arm; die Not, sagt Saramago, habe sie 1924 in die Hauptstadt getrieben, wo der Vater Polizist wurde. Die Sommer aber verbrachte der Junge weiter auf dem Dorf, bei den Großeltern. Denn: »Von aller Welt unbemerkt, hatte das Kind Ranken und Wurzeln geschlagen.«

In der Stadt nahm Saramago später einen ungewöhnlichen Weg. Er arbeitete als Schlosser, dann in einem Verlag, wurde Kommunist und nach der »Nelkenrevolution« Vize-Direktor einer Zeitung. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller, wohnt auf Lanzarote. Doch trotz der räumlichen Ferne zu Azinhaga – in seinem Werk ist er immer wieder zurückgekehrt, zurück zu den Sorgen der einfachen Leute. Seit dem Prosastück »Hoffnung im Alentejo« von 1980 zeigt er eine stilistische Eigenheit, die im jüngsten Buch besonders hervortritt: distanzierte Trauer. Das Haus der Großeltern, für Jahre sein »intimstes Zuhause« – es ist längst niedergerissen. Die Olivenhaine – abgeholzt. Aber: »Ich klage nicht, weine nicht einer Sache nach, die nicht mein Eigen war, versuche nur zu erklären, daß diese Landschaft nicht mehr die meine ist ...«

Die großen Romane Saramagos, seine Parabeln, wirken streng durchkomponiert. Und ihre Sprache fällt auf – verdichtet, stark stilisiert, oft sarkastisch. Die »Kleinen Erinnerungen« sind auch in dieser Beziehung von anderer Art. Scheinbar unsortiert reiht der Autor Episoden aneinander. »Einmal wurde ein Nachbar von uns wahnsinnig«, so beginnt eine Szene. Der Meister erzählt im Plauderton, schlicht und anrührend: von frühpubertären Affären, von Lieblingswegen durch Felder und kleinen Abenteuern am Fluss. Wir erfahren auch, wie der Junge, geboren als José de Sousa, zu seinem Namen kam. Saramago, das ist Hederich, Acker-Rettich, eine Wildpflanze, die den Armen als Nahrung diente. Saramago war der Spitzname der Familie im Ort; ein betrunkener Beamter verewigte ihn auf der Geburtsurkunde.

Bedauerlich, aber typisch für die persönlichen Texte des Portugiesen: Äußere und politische Welt, hier etwa der Bürgerkrieg im Nachbarland Spanien, dient nur als Zeitmarke für Anekdoten.

Der schmale Band, heiter, melancholisch, will vor allem eines sein – Liebeserklärung an das Dorf, an Weggefährten, Verwandte. Ein Skizzenbuch. Und dank dieser Art von Porträts wurde die kleine Autobiografie ein großes Buch: »Du saßest auf der Schwelle deiner Tür, Großvater, die offen stand zur weiten, sternenklaren Nacht, zum Himmel, über den du nichts wußtest und den du niemals bereist hast, zur Stille der Felder und der dunklen Bäume und sagtest mit der Gelassenheit deiner neunzig Jahre und dem Feuer einer nie verlorenen Jugend: ›Die Welt ist so schön, und es ist so schade, daß ich sterben muß.‹ Genau so. Ich habe es gehört.«

José Saramago: Kleine Erinnerungen. Aus dem Portug. von Marianne Gareis. Rowohlt. 160 S., geb., 16,90 €.

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