Die Erde als Organismus
Wie die umstrittene Gaia-Hypothese die Geowissenschaften befruchtet
Die alten Griechen verehrten die Göttin Gaia als personifizierte Mutter Erde, die alles Lebendige hervorbringt und ernährt. Es war mithin kein Zufall, dass der britische Chemiker James Lovelock Anfang der 1960er Jahre gerade diese Göttin erwählte, um seiner populärsten Hypothese einen Namen zu geben.
Die »Gaia-Hypothese« beschreibt die Erde als lebendigen Organismus, der aus sich selbst heraus Bedingungen erzeugt, die für den Erhalt und die Entwicklung des Lebens notwendig sind. Garantiert wird dies durch dynamische Rückkopplungsprozesse, die mit jenen vergleichbar sind, die in einem biologischen Organismus etwa die Temperatur oder den Salzgehalt des Blutes konstant halten.
Lovelocks Modell wurde anfangs belächelt. Doch die Zahl seiner Anhänger wuchs rasch, nachdem Wissenschaftler 1976 einen ersten Beleg für die Gaia-Hypothese erbracht zu haben glaubten. Damals waren zwei Viking-Sonden auf dem Mars gelandet, ohne dort geringste Spuren von Leben nachweisen zu können. Für Lovelock, der seinerzeit bei der NASA arbeitete, war dies keine Überraschung. Denn aus der Beobachtung der Marsatmosphäre hatte er schon Jahre zuvor den Schluss gezogen, dass der rote Planet mit Sicherheit ein toter Planet sei. Begründung: Die fast gänzlich aus Kohlendioxid bestehende Marsatmosphäre befindet sich in einem lebensfeindlichen chemischen Gleichgewicht – im Gegensatz zur Atmosphäre der Erde, die durch das Leben selbst nachhaltig verändert und in ein chemisches Ungleichgewicht überführt wurde.
Zwar ändert sich die Zusammensetzung der irdischen Atmosphäre derzeit kaum. Nur: Damit das so bleibt, sind zahllose chemische Prozesse vonnöten. Namentlich der molekulare Sauerstoff, der rasch mit anderen Elementen reagiert, muss ständig neu produziert werden. Die wichtigste Quelle hierfür ist das Leben. Genauer gesagt die Photosynthese, bei der Sauerstoff freigesetzt wird, den zahllose Lebewesen anschließend wieder einatmen.
Doch nicht nur die Zusammensetzung der Atmosphäre wird über Rückkopplungsprozesse stabilisiert. Gleiches gilt für den Salzgehalt der Ozeane und die globale Temperatur, die seit Jahrmillionen um einen Mittelwert schwankt, der unseren Planeten bewohnbar macht. Da die Sonneneinstrahlung seit Bestehen der Erde um rund 30 Prozent zugenommen hat, muss es folglich eine Art irdischen Thermostaten geben. Dieser wird (auch) von lebendigen Organismen in Gang gehalten. Wie das funktioniert, sei am Beispiel des marinen Phytoplanktons erklärt: Die winzigen Algen produzieren Dimethylsulfid (DMS), das in die Atmosphäre gelangt und dort als Kondensationskeim zur Wolkenbildung beiträgt. Wird es auf der Erde nun wärmer, vermehren sich die Algen stärker und setzen mehr DMS frei. Dadurch entstehen zusätzliche Wolken, die einen großen Teil der Sonnenstrahlung reflektieren. Und: Die Temperatur sinkt wieder.
Die Erforschung solcher Rückkopplungsschleifen hat maßgeblich dazu beigetragen, dass in den Geowissenschaften die häufig mechanistische von einer systemischen Betrachtung der Erde abgelöst wurde. Soweit hat der inzwischen 90-jährige Lovelock durchaus als Anreger der modernen Wissenschaft gewirkt. Wie aber steht es um seinen Kernsatz, dass Mutter Erde einmal entstandenes Leben gleichsam beschütze und dessen Entwicklung fördere? Der Paläontologe Peter Ward von der University of Washington hält diese These schlicht für unhaltbar. In der Zeitschrift »Spektrum der Wissenschaft« (11/2009) schreibt er dazu: »Seit Leben existiert, ist es in der Lage, sich selbst zu zerstören.«
Sogar der viel gepriesene irdische Thermostat fiel mehrmals in der Geschichte aus. Vor rund 2,3 Milliarden Jahren etwa gefror die Erde für 100 Millionen Jahre fast vollständig zu. Und die Ursache dafür kam nicht etwa als Meteorit aus dem All. Vielmehr hatten Mikroben durch Photosynthese so viel atmosphärisches Kohlendioxid verbraucht, dass kein Treibhauseffekt die Abkühlung abbremsen konnte.
»Aber auch die großen Massenaussterben in der Erdgeschichte waren teilweise hausgemacht«, betont Ward. Eines ereignete sich am Ende der Perm-Zeit vor rund 251 Millionen Jahren. Damals führte eine durch Vulkane ausgelöste globale Erwärmung dazu, dass Bakterien in den ruhigen und sauerstofffreien Ozeanen riesige Mengen an Schwefelwasserstoff freisetzten. Ein Gas, das nicht nur giftig ist, sondern auch die lebensschützende Ozonschicht zerstört. Nach der Gaia-Hypothese hätte das Leben diese Prozesse eigentlich abfedern sollen, meint Ward: »Doch nichts dergleichen geschah.«
Und wie steht es um die Zukunft des Lebens, wenn wir einmal annehmen, dass keine globale Öko-Katastrophe die irdische Biosphäre vorzeitig zerstört? Immerhin besagt das Gaia-Modell, dass die Existenz von Leben auf einem Planeten dessen Bewohnbarkeit automatisch verlängere. Fest steht: Mit der sich verstärkenden Sonneneinstrahlung erwärmt sich auch die Erde. Allerdings entziehen das schnell verwitternde Silikatgestein und die Photosynthese der Atmosphäre Kohlendioxid, so dass die Erwärmung gebremst wird. Bis hierhin greift das Gaia-Modell. In etwa 500 Millionen Jahren dürfte es jedoch an seine Grenzen stoßen, vermutet Ward. Denn in der Atmosphäre ist dann nicht mehr genügend Kohlendioxid vorhanden, um die Photosynthese aufrecht zu erhalten. Die Pflanzen sterben und danach die Tiere, denen der Luftsauerstoff fehlt. Ohne Pflanzen nimmt der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre wieder zu. Es kommt zu einem verschärften Treibhauseffekt, bei dem die Erdoberfläche zuletzt so heiß wird, dass auch Mikroben verkochen.
Nach Wards Schätzungen dürfte Gaia noch etwa eine Milliarde Jahre existieren. Völlig offen ist dagegen die Frage, wie lange es während dieser Zeit Menschen auf der Erde geben wird. Denn die Antwort darauf hängt mehr von der Lernfähigkeit unserer Spezies ab als von den Modellrechnungen der Geowissenschaftler.
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