Die alten Männer gehen einfach
Eine winterliche Grabsuche im Baltikum
Die Geschichte beginnt vor 70 Jahren: Hermann Ruf, Angestellter des Landesdenkmalamtes in Karlsruhe, erhält seine Einberufung. Er ist 27 Jahre alt und seit Kurzem verheiratet. Über die eheliche Wohnung schreibt er: »Das Führerbild ist inzwischen auch eingetroffen. Es ist groß und schön.«
Von da an hat er noch ein Jahr zu leben. Er fragt in jedem Brief nach seinem ebenfalls einberufenen Bruder und erwartet zu Weihnachten 1940 ein Paket: »Wenn Post ausgeteilt wird, gibt es immer fröhliche und lange Gesichter. Für mich war bis jetzt nichts dabei.«
Wie seine Eltern um ihn, so macht er sich umgekehrt um sie Sorgen: »Auch freut mich, dass Ihr vor den Fliegern Ruhe habt.«
Ich schaue auf: Vor dem Kabinenfenster die ruhige, blaue Ostsee. Ich bin unterwegs, um das Grab meines Großvaters zu finden. Die Überfahrt von Rostock nach Ventspils in Lettland dauert 26 Stunden; ich habe Zeit, mich in die Sütterlin-Handschrift einzulesen.
Im Februar 1941 darf mein Großvater noch einmal auf 28 Tage zu seiner Frau. Nach Ende dieses Urlaubs, »das Gute vergeht immer schneller als das Unangenehme«, reist er wieder zu seiner Einheit. »So gefroren hat mich noch nie in meinem Leben. Mehr kann ich Euch aus Euch wohl verständlichen Gründen nicht schreiben. Ich bin Soldat.«
Er schreibt: »Weshalb müssen sich die Menschen auch gegenseitig so plagen. Es ist aber überall so, im Kleinen wie im Großen« und: »Heute sprach der Führer im Reichstag. Jetzt werden Maria und Charlotte wohl Arbeit annehmen müssen. Höchstens, dass Charlotte, weil sie bald Mutter ist, nicht in die Fabrik braucht.«
Im März '41: »Wenn es nur jetzt mal mit dem Krieg voranginge, dass bald Schluss ist. Man wird ganz ungeduldig.« Im April: »Und wieder sind unsere Truppen angetreten, und wieder werden sie siegen. Hoffentlich wird es der Endsieg sein, so dass wir uns in diesem Jahr wiedersehen.« Im Mai: »Hoffentlich kommt bald mal der Hauptschlag, dass es endlich mal ein Ende gibt und man wieder zu seiner Familie kommt.«
In seinem letzten Brief schreibt er: »Ich habe den Krieg schon kennengelernt«. Dieser Brief vom 17. Juli '41 ist der kürzeste von allen – nur zehn Zeilen. Er wirkt hastig und krakelig hingeworfen. »Grüßt die anderen all. Auf Wiedersehen. Euer Hermann.« Drei Tage später ist mein Großvater tot, drei Monate später wird mein Vater geboren werden. Der Bruder wird die Witwe heiraten, vermutlich eher aus Pflichtgefühl als aus Liebe. Eine von vielen Versorgungsehen der Kriegs- und Nachkriegszeit.
Nachts komme ich an. Die Kuratorin des Schriftsteller- und Übersetzerhauses Ieva Baloda holt mich in ihrem Shiguli ab. Das Haus wurde 2006 gegründet und wird durch EU-Gelder finanziert. Dort treffe ich den Mann, der mir als Übersetzer zur Seite stehen wird: Valerij Buev, Maler und Dichter aus Chisinau in Moldawien.
Er fragt Ieva, ob er eher englisch oder russisch sprechen soll. Sie sagt, dass es in den 90er Jahren tatsächlich Orte gab, an denen man besser kein Russisch oder besser kein Lettisch sprach, wenn man keinen Ärger bekommen wollte. Aber diese Zeit sei vorbei. »Aus Feindschaft kannst du ein Land nicht entwickeln.« Jeder habe russische Freunde, die Familien seien gemischt. »Die Ultras, die ›Lettland den Letten‹ fordern, das ist nur eine Minderheit, die mag hier keiner.«
Am frühen Morgen brechen Valerij und ich auf. Die Busfahrt von Ventspils nach Riga dauert drei Stunden, die von Riga nach Tallinn in Estland noch einmal viereinhalb Stunden. Die Landschaft – Nadelwald, Seen, verschneite Felder – ist schön. Ich darf sie betrachten, ohne denken zu müssen, dass sie eine Gefahr ist, dass dort »der Feind« sich verbirgt. Ich muss immer wieder an drei Sätze aus den Briefen meines Großvaters denken: »So gefroren hat mich noch nie in meinem Leben«, »Gestern habe ich einen ganzen Liter Milch getrunken, gute«, und: »Ich habe den Krieg schon kennengelernt.«
Valerij unterhält mich mit Anekdoten aus seiner Militärzeit in Nischnij Nowgorod. Wie die jungen Soldaten, als man ihnen Sprengladungen anvertraute, am ersten Tag alles nach Vorschrift machten, schon am zweiten Tag beim Frühstück hitzig wurden: »Und was, wenn wir eine Ladung direkt unter einem Baum vergraben?« »Und wenn wir den Abstand nicht einhalten. Wie nah traust du dich ran? Fünf Meter, zwei Meter ...?«
Etwas von einer solchen Atmosphäre wird auch meinen Großvater umgeben haben; schließlich verging ein ganzes Jahr bei der Wehrmacht, bevor er »den Krieg kennenlernte.«
Er schreibt: »Wir haben hier auch eine Weihnachtsfeier. Aber das gibt doch nur ne Sauferei.«
Als wir in Tallinn ankommen, dunkelt es schon. Wir gehen vom Busbahnhof zur alten Stadt, wechseln in einer der zahlreichen Stuben Geld. Meine Anfrage in der Touristeninformation überrascht nicht. »Der Marienberg, das liegt hier: Maarjamäe. Dort gibt es einen Stein mit vielen Namen. Da haben schon viele Deutsche ihre Angehörigen gefunden.«
Im Okkupationsmuseum erwerbe ich ein Buch auf Deutsch: »Estland im Zweiten Weltkrieg«. Darin lese ich, dass die ersten deutschen Vortruppen am 7. Juli 1941 die estnische Grenze überschritten (also vierzehn Tage vor Hermanns Tod), und dass sein Tod genau in eine Stille zwischen zwei Schlachten fiel. Am 19. Juli 41 nach der Schlacht von Audru und einem erneuten deutschen Angriff am 21. Juli bei Poltsamaa. Mein Großvater fiel am 20. Juli '41. Das stützt die Geschichte, die ein heimgekehrter Mitsoldat erzählte, dass nämlich mein Großvater seine Mütze in einem Gewässer habe waschen wollen, dass er dabei »abgeknallt« wurde. Ein Soldat wäscht seine Mütze. Das Zivile an der Szene gefällt mir. Auch, dass er nur Gefreiter war, sich also nicht »ausgezeichnet« hat.
Die Todesmitteilung ging irgendwie verloren, da erhält die schwangere junge Frau ein Paket und ein kurzes Schreiben: »Die Kompanie übersendet Ihnen folgende Privatsachen Ihres Gatten: 1 Paar Fausthandschuh, 1 Stiefelknecht, 1 Tube Zahnpasta, 1 Mundharmonika, 5 Paar Erstlingsstrümpfe, 4 Erstlingsjäckchen, 2 Hemdchen.« Daraus kann sie schließen, dass er tot ist. Er war der erste Kriegstote aus Karlsdorf. Und die Nachricht sorgte dort für einige Aufregung.
Die Witwe bekommt eine Gallenkolik, wird schwer krank. Zwölf Tage später: »In der Anlage übersendet Ihnen die Kompanie eine Ausfertigung der Todesmitteilung.« Und erst als drittes, vier Monate später, ein salbungsvoller Brief: »Das größte Opfer, das der Einzelne für die Nation bringen kann, hat Ihr Gatte gebracht« usw.
Am nächsten Morgen machen wir uns auf den Weg zum Friedhof. Der Schnee knirscht unter den Füßen. Während ich das Gelände abschreite, um es für meinen Vater zu fotografieren, bemerkt Valerij ein großes Kreuz und zwei wie Riegel darunter liegende Pultsteine. Alles ist mit Schnee bedeckt. Er beugt sich vor und wischt den Schnee weg. Als hätte ihn etwas herangezogen, wischt er nahe der richtigen Stelle. Ich trete hinzu, knie mich auf den Stein. Kurz vor Weihnachten 2009 wische ich den Schnee vom Namen Hermann Ruf. »Das ist mein Großvater«, sage ich bewegt.
Ich bin die erste Angehörige, die jemals hier hat sein können.
Die Wehrmacht erreichte am 28. August 1941 Tallinn und legte den Soldatenfriedhof als Zubettungsfriedhof an. Wie der Friedhof bis '45 ausgesehen hat, kann man sich vorstellen: kleine weiße Kreuze oder Tafeln mit Namen und Daten. Und unter diesen 2300 Gräbern auch das Einzelgrab mit der Nummer 3971, das uns als Grablage angegeben wurde. Dann wandelten die sowjetischen Behörden den Friedhof in eine Wiese um, die zum Teil mit Birken bepflanzt ist. Es hätte also keinen Hinweis auf Hermann Ruf gegeben. Erst im Herbst 1998 errichtete der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Auftrag der Bundesregierung das Kreuz und die Steine. »Die Toten dieses Friedhofes mahnen zum Frieden«, steht auf der Informationstafel.
Ich kenne das Leben, das mein Großvater geführt hätte, wenn er den Krieg überlebt hätte. Da immer meine Großmutter kochte, weiß ich, was er geschmeckt und welche Gerüche aus Küche, Vorratskeller, Wäschekeller ihn umgeben hätten. Er hätte weiter Briefmarken gesammelt, im Garten gearbeitet, hätte mit uns, seinen Enkeln, am Wochenende am Tisch gesessen und mit Sahne angemachten Gurkensalat gegessen. Dann wäre sein Bruder, den ich als meinen Großvater kannte, eben nur ein Großonkel für mich gewesen.
Im nahegelegenen historischen Museum betrachte ich in einer Vitrine die Uniform aus grünem Tuch, den breiten Ledergürtel, die Knöpfe, die vier aufgesetzten Taschen, den Adler mit dem Hakenkreuz in seinen Krallen und auf der Gürtelschnalle den Spruch: »Gott mit uns«. Die in die Halbstiefel gesteckten Hosenbeine, die braunen Lederschuhe – man weiß, in was für Kleidern jemand steckte, der als Soldat starb, weiß, welche Art von Stoff er zuletzt auf der Haut gefühlt hat.
Abends im überheizten Hostel Vana Tam stoßen wir mit estnischem Honiglikör auf meinen Großvater an, und auch darauf, wie merkwürdig es ist, dass wir beide – ein Russe und eine Deutsche – dort oben den Schnee wegwischten, ich, die in Friedenszeiten aufgewachsene Deutsche, eine Enkelin jener Generation, die durch den Faschismus in ihren Gefühlen und Ansichten verdorben, körperlich verwundet oder vernichtet wurde, und er, Sohn eines Oberst – wie ich nun im Gespräch erfahre. Valerij sagt: »Ich bin gerade noch so davongekommen. Mein Wehrdienst begann 1970, also war ich bei der Invasion in die Tschechoslowakei nicht mehr dabei, und er war zu Ende, bevor ich nach Afghanistan hätte einmarschieren müssen.«
Zurückgekehrt nach Ventspils fragt Ieva Balode nach unserer Reise. Ich sage: »Es hat mich gewundert, dass neben den deutschen auch estnische Soldaten beerdigt sind. Dass die Esten für die Deutschen gekämpft haben.« Sie erwidert empört: »Nicht für die Deutschen. Für sich. Für Estland.« Und sie erklärt, dass in Litauen, Lettland und Estland der Zweite Weltkrieg ein Bruderkrieg war. Dass Balten sowohl in sowjetischen als auch in deutschen Uniformen kämpften, je nachdem, welcher Seite sie mehr Glauben schenkten. Allen ging es darum, die goldenen Zeiten der Unabhängigkeit zwischen den Weltkriegen wiederherzustellen, und alle erlebten, dass auch den Deutschen nichts an der Unabhängigkeit des Baltikums gelegen war. Ein Okkupant wechselte einfach den anderen ab. Einer von Ieva Balodes Großvätern kämpfte für die Sowjets, wurde verwundet, kehrte als Held heim, durfte im eigenen Bauernhof wohnen bleiben und musste nicht für die Kolchose arbeiten. Er erhielt eine lebenslängliche Pension. Der andere kämpfte mit den Deutschen und wurde nach dem Krieg nach Sibirien deportiert, seine Frau kam ins Gefängnis, die Tochter – Ievas Mutter – wuchs verlassen auf: »Meine Mutter hatte am meisten zu leiden«, der Großvater galt lebenslänglich als Feind.
»Sprachen die beiden Männer miteinander?« – »Natürlich! Sie kannten ja den ›dummen Weg‹, den sie gehen mussten. Da war keine Ideologie dahinter. Es war Zufall, auf welche Seite es dich verschlug. Sie haben sich beide nicht freiwillig gemeldet. Sie wurden zwangsverpflichtet. In Lettland weiß jeder: Da gibt es weder Schwarz noch Weiß.«
Und sie erzählt vom 16. März, dem Veteranentag. Jedes Jahr gebe es die Diskussion, ob man Letten, die freiwillig auf deutscher Seite gekämpft haben, durch Riga ziehen lassen darf. »Die EU sagt: Das geht nicht.«
»Und die Männer?«, frage ich.
Ieva Balode lächelt: »Die alten Männer gehen einfach. Und die Regierung tut so, als würde sie nichts sehen und nichts hören.«
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