Winterlicher Nebel überm India Gate

Impressionen aus der Megastadt: Im Großraum Delhi leben 18 Millionen Menschen. In ganz Indien sind es fast 1,2 Milliarden, gut doppelt so viel wie in der Europäischen Union

  • Manfred Loimeier
  • Lesedauer: 7 Min.

Delhi, morgens sechs Uhr. An den Straßen durch die Vororte der indischen Metropole erwacht das Leben. Neben Hütten und Zelten aus Holzabfällen und Stoffresten, die sich Obdachlose unter Büschen und Bäumen zurechtgebaut haben, flammen kleine Feuer auf, an denen sich die Menschen wärmen. Am Straßenrand sind Arbeiter und Angestellte zu Fuß unterwegs, die sich weder Bus noch Minitaxi leisten wollen oder können. Wegen der Kälte haben sie Schals und Tücher um ihre Köpfe geschlungen, reiben sie ihre Hände aneinander, trotz der Handschuhe, die sie ohnedies tragen.

Die Riesenstadt erwacht

Eisige Nordwinde aus dem Himalaja sind es, die Anfang Januar selbst in Delhi noch die Temperaturen in die Nähe des Gefrierpunkts trieben. Wenn die kalte Höhenluft im Fallen auf etwas wärmere Westwinde trifft, legt sich dichter Nebel über die Millionenstadt – und bringt den Verkehr zum Erliegen. Dann ist der Flughafenbetrieb tagelang eingeschränkt, Regional- und Überlandzüge verspäten sich um Stunden und vom berühmten India Gate, dem 42 Meter hohen Soldatendenkmal im Osten Neu-Delhis, ist zwar noch der Sockel, nicht aber der Torbogen zu erkennen.

7 Uhr, der Lärm nimmt zu in Del-hi, aber noch sind die Straßen weitgehend frei. Abseits vom Zentrum, aber gar nicht weit von den Bürogebäuden des Geschäftsviertels, öffnen Gemüse- und Videoläden, räumen Händler ihre Waren auf hölzerne Verkaufsstände, strampeln Fahrradkuriere und Dreiradtaxis los. Ein mühsam tretender Radfahrer hat mehrere Gasflaschen auf seinem Gepäckträger untergebracht, ein anderer balanciert darauf eine Vielzahl kleiner hölzerner Käfige mit Hühnern und anderem Geflügel. Ein weiterer hat Papierrollen und Stoffballen darauf festgezurrt und tut sich schwer, das Gleichgewicht zu halten und zwischen den Autos nicht aus der Spur zu kommen. Kühe suchen im Müll nach Fressbarem, stapfen durch übergelaufene Kloake aus der offenen Kanalisation und stehen scheinbar unbeirrt auf Haupt- und Nebenstraßen.

9 Uhr. Ab jetzt herrscht Verkehrschaos in der Stadt, drängeln Pkw-, Bus- und Taxifahrer um jeden Millimeter, werden sie von Mopedfahrern umschlängelt, die, wenn es gar nicht anders geht, auch auf Gehwege ausweichen, sofern es welche gibt. Das Grün und das Gelb der Dreiradtaxis sind die beherrschenden Farben auf den überfüllten Straßen.

Im Regierungsviertel von Neu-Delhi ist etwas weniger los. Die Gehwege sind breit, die Straßen wie Avenuen angelegt, mit einem Grünstreifen in der Mitte. Die Nationalgalerie ist in diesem grüneren Stadtviertel im Nordosten zu Hause, das Nationalmuseum ebenso. 5000 Jahre Geschichte sind darin in mehreren Galerien um einen Innenhof veranschaulicht: Architekturmodelle, Kleider, Holztruhen mit Intarsien aus Perlmutt, Waffen, Wandteppiche, Elfenbeinschmuck, Gemälde, Figuren, Masken und Musikinstrumente.

Hinter den Zäunen der Gebäude im Regierungsviertel erstrecken sich Rasenflächen, Wachpersonal sichert die Besucherbereiche. In den Bäumen sollen sonst Papageien sitzen, aber denen ist es zurzeit offenbar zu kalt. In den Gebäuden dieses Viertels werden die Commonwealth-Spiele im Oktober 2010 vorbereitet, die Feldhockey-Weltmeisterschaft der Männer, die Ende Februar bis Mitte März 2010 stattfindet, wird hier ebenfalls koordiniert. Wen kümmert da die Fußball-WM in Südafrika?

»Bald ist Indien die Nummer eins in der Weltwirtschaft«, ist Asif Gupta sicher, der bei einer Fluggesellschaft angestellt ist. »Und wir werden auch militärisch die Nummer eins sein«, fügt er mit Blick auf den Rivalen und Nachbarn Pakistan hinzu. Seine Meinung steht für viele auf dem Subkontinent, aber darin schlagen sich eher der Optimismus und das gewachsene Selbstvertrauen nieder als eine realistische Einschätzung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung des Landes. Zu groß sind noch die Probleme, zu eng ist der allein wirtschaftlich orientierte Sichtwinkel: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Kinderarbeit erregt Besorgnis, eine umfassende Gesundheitsvorsorge gibt es noch nicht, der Bildungsgrad der Durchschnittsbevölkerung ist meilenweit vom hohen Standard der vermögenden Elite entfernt.

Klimawandel? Nie gehört!

»Klimawandel«, erwidert Gupta fragend den Hinweis auf die Luft- und Umweltverschmutzung in Del-hi, »was ist das?« Es zeigt sich, dass er in der Tat schlicht nicht weiß, was dieser Begriff bezeichnet. Noch nie davon gehört.

Guptas Büro befindet sich in der Nähe des Connaught Place. Das ist die pulsierende Lebensader Neu-Delhis: Ganz im Gegensatz zum völlig überfüllten Zentrum des alten Delhi ist der Platz sehr großzügig angelegt. Geschäfte und Büros sind in prächtigen Gebäuden mit Arkadengängen untergebracht. Am und um den Connaught Place finden sich die besten Hotels und die gefragtesten Restaurants, und die Stadtverwaltung residiert hier auch.

Zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten Delhis gehört das Rote Fort, dem zwar nur ein Zehntel der ursprünglichen Größe geblieben ist, das aber immer noch imposant von vergangenem Glanz kündet. Der Gebäudekomplex aus rotem Sandstein war als Palast des fünften Moguls von Indien, Shahjahan (1628-1658), errichtet worden, als die Hauptstadt seines Imperiums noch Shahjahanabad hieß. Heute steht das Rote Fort – UNESCO-Weltkulturerbe – inmitten eines Gewirrs nahe der Chandni Chowk Road, als Zeuge des Gestern im Trubel der Gegenwart.

Unweit davon liegt das etwas kleinere Salimgarh Fort, das sich erst nach und nach ins Bewusstsein der Besucher schiebt und selbst den Delhiiten, wie sich die Einwohner Delhis nennen, kaum bekannt ist. Halbkreisförmig stand das 1545 errichtete Fort einst am Westufer des Yamuna-Flusses, dessen Lauf inzwischen aber etwas ostwärts liegt.

Von der Chandni Chowk Road gehen etliche belebte Handwerkergassen ab. Allein die der Silberschmiede beansprucht einen ordentlichen Fußmarsch. Von diesen Gassen wiederum zweigen noch engere Gänge ab, manchmal führen sie zu Basaren, manchmal sind es nur schulterbreite Sackgassen, manchmal steigen an ihren Seiten Treppen steil an zu Wohnetagen. Die engen Treppenaufgänge sind optimal genutzt: Diverse Utensilien, auch Fahrräder; hängen an den Wänden. Selbst hinter der schäbigsten Häuserfassade sind alle verfügbaren Zimmer belegt, leuchtet Licht aus den Fenstern.

Unten auf den schmalen Straßen quirlt ein scheinbar unaufhörlicher Strom an Menschen, durch den noch Fahrradkuriere und Fahrradtaxis drängen. Die Radfahrer rufen, pfeifen, kämpfen sich tretend durch, immer rücksichtsvoll, immer mit Maßarbeit – manchmal scheinen nur Millimeter zum nächsten Hindernis zu fehlen, das aber nie touchiert wird.

Prozessionen und Gebete

Zurück am Connaught Place: Bunt gekleidete Sikhs feiern den Geburtstag ihres Guru Gobind Singh. Lichtergirlanden umkränzen den Goldenen Tempel und spannen sich über die Straße. Hell beleuchtet ist die Fassade. 30 000 Menschen, heißt es, sind deshalb auf der Straße, säumen nicht nur den dreifachen Straßenring rund um den Connaught Place. Mancher entnervte Autofahrer parkt seinen Wagen irgendwo und versucht zu Fuß sein Glück.

Zwar dürfen Prozessionen in Neu-Delhi nur noch ein Viertel der Fahrbahn einer Nebenstraße beanspruchen, aber noch hat sich das offenbar nicht herumgesprochen. Ebenso wenig wie die Vorschrift, dass Prozessionen Kreuzungen und Kreisverkehre nicht blockieren dürfen und dass ein Umzug nach vier Stunden beendet sein muss. Die Prozession der Sikh währt schon seit elf Stunden, sagen Passanten. Natürlich staut sich der abendliche Verkehr schon seit geraumer Zeit. Nicht umsonst weist die Stadt die vierthöchste Luftverschmutzung aller Großstädte der Welt auf.

18 Uhr, mit einem Mal ist es dunkel geworden. Von Moscheen klingen die Rufe der Muezzine, Muslime verrichten auf dem Gehweg davor ihr Abendgebet. Gleich gegenüber hat auch die christliche Kirche ihr Portal geöffnet und lässt in ihrem Inneren einen biblischen Text in arabischer Schrift erkennen. Fußgänger sind nur noch als Schemen wahrzunehmen, und als Passant sieht man diverse Schlaglöcher und fehlende Abdeckungen nicht selten erst zu spät.

Der Dunst über der Stadt ist wieder dichter geworden, denn der aufziehende neue Nebel mischt sich mit den Abgaswolken des regen Verkehrs. Und mit der Nacht nimmt auch die Kälte wieder zu.

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