Loyalität und Widerspruch

Komponieren für und wider den Staat – ein Buch von Matthias Tischer über Paul Dessau in der DDR

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 6 Min.
»Wir verbourgeoisieren immer mehr + mehr. Oh! Sozialismus!« Paul Dessau
Dieses »Verbourgeoisieren«, welch Wortungetüm, bedrückte Paul Dessau nicht erst 1973, als er das in sein Tagebuch schrieb. Der Exilant und Rückkehrer war ja nach dem Krieg anders angetreten. Die Klasse der Bourgeoisie, schuldig an Faschismus und Krieg, sollte, wenn nicht ganz überwunden, so doch in die Schranken gewiesen werden. Reichlich alter Unrat war noch da. Siebzig Nazis kämen auf einen Antifaschisten, wie solle man da umgestalten. Fluchte dereinst Ernst Busch. Ein hoffnungsvolles Projekt tat sich Dessau wie vielen seinesgleichen mit der Gründung der DDR auf. (Brecht: »Lieber eine stalinistische DDR als gar keine.«) Ein Entwurf, der auch ungeahnte künstlerische Möglichkeiten in sich schloss. Von daher zäumte Dessau seine gesamte Produktion auf, vom Aufbaulied über »Meer der Stürme« bis zu »Leonce und Lena«, stritt für neue Musik, suchte sein Publikum wissend zu machen.

Über solch einen freundlichen, auch bissigen, zornigen Musikertyp unter Bedingungen eines mehr und mehr verrottenden Kapitalismus ein Buch zu schreiben – welch eine Herausforderung.

Der Musikwissenschaftler Matthias Tischer, er kam vom Studium in München nach Weimar, hat die Herausforderung angenommen. Seine Schrift zeigt: Hier will einer wirklich allseitig erkennen, erfassen und nicht die ohnehin laufende Delegitimierung der DDR lediglich bebildern. Der Autor, agil, lernfähig, kritisch, hat wohl am meisten an Paul Dessau selbst gelernt. Entlang seiner so starken wie streitbaren Persönlichkeit, seiner sperrigen, polyglotten Musik, seiner solidarischen kommunistischen Gesittung (welche der Autor freilich nicht teilt), rüttelt Tischer sogar an ehernen Prinzipien wie dem Paradigma des Totalitarismus, das mehr verdecke als es freilege.

Musikologie, Historiografie und sonstige Disziplinen hätten – hüben wie drüben – unter den Bedingungen der Ost-West-Konfrontation ihren Tribut zollen müssen. Überschattet worden sei beiderseits auch die kulturelle Situation. »Insofern wird manche Eigentümlichkeit des musikalischen Diskurses der DDR erst vor dem Hintergrund des Systemkonflikts im ›Frontstaat‹ mit seiner ›Frontstadt‹ Berlin verständlich.« Substantielle Folgerungen, gar die Idee, die Systeme, Musikverhältnisse zu vergleichen, zieht der Autor daraus nicht oder nur halbherzig. Allzu oft schimmern die seit dem Kalten Krieg verewigten Bewertungen der Westseite durch: hie eitle Freiheit, da schlimmste bis gemäßigte Unterdrückung. Tischer kämpft zwar gegen Vorurteile, dieselben holen ihn jedoch immer wieder ein.

Wolle man der Figur Dessau gerecht werden, dürfe die Vorgeschichte – Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Faschismus, Verfolgung, Vertreibung, Zweiter Weltkrieg, Rückkehr aus dem Exil – nicht aus dem Blick geraten. Dies ist sehr klug bedacht vom Autor und zahlt sich, wie betreffende Erörterungen zeigen, aus.

Tischer hat tief gegraben. Fündig wurde er in Archiven der Akademie der Künste Berlin. Maxim, Sohn Dessaus, half ihm. Mancherlei neues, teils erhellendes Material birgt die Schrift: bisher unbekannte Notenblätter, Tagebuchnotizen, kompositorische Entwürfe, reichlich Material aus Akademiedebatten und anderweitigen ästhetischen Diskussionen.

Zentral ist die Untersuchung der Orchesterwerke, die Paul Dessau in der DDR geschrieben hat. Tischer sucht daran das Wechselverhältnis von Macht und Musik zu verifizieren. Hierfür hält er fein ausgearbeitete, um literaturwissenschaftliche Instrumentarien (von Michail Bachtin) angereicherte Methodiken bereit. Die Stellen hätten ihn interessiert, »wo sich biografisch vermittelte Zeitgeschichte den Kompositionen einschreibt«. Künstler aus dem Osten in diese Macht-Musik-Konstellation zu stellen, auch hineinzuzwängen, gehört zu den beliebten Traditionen im Wissenschaftsbetrieb der Bundesrepublik. Tischer bedient sie und hebt sich von ihnen ab. Die Schrift ist dort aufschlussreich, wo sie diese Traditionen wegschiebt. Leider geschieht das zu selten.

Dessau hätte in der Orchestermusik »Meer der Stürme« eine »Strategie zur Rechtfertigung avancierter Instrumentalmusik« erprobt, weil es ein prinzipielles Misstrauen gegen »die Abstraktheit der ästhetischen Artikulation« kulturpolitisch gegeben habe. Ja, das Misstrauen hat es gegeben. Trotzdem Unsinn! Dessau hat das komponiert, was er musste. Rücksichtslos. Nicht gegen Ansichten irgendwelcher Funktionäre, die bei Tischer fast durchweg blutleere, abstrakte Eminenzen sind (hunderte Belegstellen machen sie noch abstrakter), fähig, auf einen expressiven Klang in Extremlage mit hinterhältigen Tremoli auf die Alarmglocke zu reagieren. Der Autor teilt – absurd – ein in Stimmen »parteiunmittelbarer Kritik«, »parteimittelbarer Kritik«, »parteioffizieller Kritik«, auch in solche »parteioffizieller Kulturpolitik« oder einer »Kulturdoktrin sowjetischer Provenienz«. Gerät man als Leser in diese ewig sich drehenden, leblosen Mühlen, so wird die Lektüre der sonst vielfach instruktiven Darstellung elend langweilig.

Na klar gab es Reibereien mit der Kulturbürokratie und deren Hierarchien. Manche ihrer Akteure wurden bis in die siebziger Jahre nicht müde, noch in den gelungensten modernen Kunstwerken den scheißenden Floh aus dem Gehege des Feindes auszumachen. Wo aber gibt es solche Auseinandersetzungen nicht? Renitente Künstler und sie verachtende Chefs, Auftraggeber, Veranstalter und sonstige Verfügende waren und sind natürlich genauso im Kultur- und Musikbetrieb West aufzufinden. Nicht zu zählen, wer da alles und was im Lauf der Jahrzehnte beargwöhnt, in die Enge getrieben, verboten, verteufelt wurde. Von der Warte jeweils herrschender, sich pluralistisch-demokratisch gerierender politischer Doktrinen. Etwa im Falle der Verschleppung und Verurteilung Isang Yuns 1967/68 und des Hamburger Uraufführungsskandals von Henzes »Das Floß der Medusa« 1968. Das geht bis heute. Was im Westen auch geschehen sein mag, es entschuldigt nicht die Repressionspraxis, wie sie unter stalinistischen Vorzeichen allenthalben in den ersten beiden DDR-Jahrzehnten geübt wurde.

Eine Fülle Exkurse umlagern die analytischen Studien zu den Orchestermusiken, Exkurse über Schönberg, Webern, J. S. Bach, Beethoven, Hanns Eisler. Das ist nötig, um die Macht-Musik-Konstellation zu bestätigen, öffnet aber zugleich den Blick in Debattenkulturen jeweils bestimmter geschichtlicher Perioden. Interessant zu lesen, wie im Zeichen des Kalten Krieges die Beethovenfeierlichkeiten 1970 in Bonn und Berlin (DDR-Hauptstadt) vorbereitet wurden.

Dessaus Bekenntnis zu Webern, das übersieht der Autor, ist in der Rückschau nicht unproblematisch. Webern, wie neuere Forschungen zeigen, war zwischen 1914 und 1945 nicht nur frenetischer Kriegsverherrlicher, er war seit 1933 auch von fataler nazistischer Gesittung. Fraglich, ob der Antifaschist Dessau, wäre ihm dies gewärtig gewesen, sich mit seinem Stück »In memoriam Anton Webern« vor dem Begründer der Serialität verneigt hätte.

Nach allem, was der Band an Material ausbreitet: Dass Dessau gegen seinen Staat komponiert haben könnte, das findet man darin nicht. Allenfalls Aussagen über sein Aufbegehren gegen Missstände, sein Anrennen gegen die Dummheit in der Kunst. Tischer: »Im selben Maße, wie er international Gleichgesinnte suchte und fand, die sich ebenfalls in ihrer Arbeit der Parteinahme für die Schwachen und dem Streben nach einer gerechteren Welt verpflichtet fühlten, versuchte er im eigenen Lande die Folgen der relativen Abschottung, zumindest auf dem Gebiet der Musik, zu lindern.« Faktisch suchte »der gläubige Sozialist Paul Dessau«, wie Tischer mehrmals abfällig schreibt, mit seinen Mitteln seinen Staat zu verbessern.

Ist sein Glaube erschüttert worden, wie es im Buch heißt? Absolute Loyalität gegenüber seinem Land und Widerstand, das war für ihn kein Widerspruch. Dessau stritt hartnäckig, wenn auch mit geringem Erfolg, für die Festsetzung kollektiver, demokratischer Ideen in den Musikverhältnissen. Er solidarisierte sich über konkrete Projekte wie der »Jüdischen Chronik« mit westlichen Kollegen. Er lud zu sich nach Hause des öfteren Henze, Nono und andere Komponistenfreunde ein und debattierte mit ihnen über Werke und die Weltpolitik. Schließlich unterstützte er wie kein anderer in seinem Land junge, begabte Neutöner. All das beschreibt der Autor. Sein Buch hilft – trotz der Einwände –, sich der starken, zukunftsfähigen Hinterlassenschaft Paul Dessaus kritisch zu nähern.

Matthias Tischer: Komponieren für und wider den Staat – Paul Dessau in der DDR. Böhlau Verlag, 344 S., geb. 39,90 €.

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