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Metamorphosen in der Bahnhofshalle
Das Würzburger Theater »Augenblick« ist Arbeitsplatz für Menschen mit geistiger Behinderung
Würzburg. Peter Englert ist in seinen Besen verliebt. Mit großen Augen guckt der Schauspieler den langen Holzstiel an, bevor er ihm schüchtern einen Kuss verpasst. In seiner Rolle als Putzmann vom Bahnhof ist für ihn der Besen mehr als nur ein Reinigungsinstrument: Mit sanfter Frauenstimme spricht der Feger zu ihm, entführt ihn aus seinem tristen Arbeitsalltag. Ein Alltag in der Bahnhofshalle, der parallel zu den Tagträumereien sieben wartender Reisender in dem Theaterstück »ZwischenGleise« gezeigt wird.
Was gespielt wird, ist echt
Acht Schauspieler unterhalten hier gekonnt ihr Publikum, wobei eines keine Rolle spielt: dass die Mimen, fünf Männer und drei Frauen, alle eine geistige Behinderung haben. Als Ensemble des Würzburger Theaters »Augenblick«, einer Werkstätte für Menschen mit geistiger Behinderung, verdienen sie ihr Geld mit Theaterspielen.
»Es geht darum zu zeigen, dass es möglich ist, professionelles Theater mit Menschen mit geistiger Behinderung zu machen. Manche sind in ihren schauspielerischen Fähigkeiten den Nichtbehinderten sogar überlegen«, erzählt Stefan Merk, künstlerischer Leiter der nach seinen Angaben bayernweit einzigartigen Werkstätte. Seit 1998 macht er Theater mit geistig behinderten Schauspielern, seit sechs Jahren auf einer festen Bühne, dem Theater »Augenblick«. Etwa 3000 Zuschauer kommen pro Jahr zu der Spielstätte im Osten Würzburgs, mitten im Industriegebiet zwischen Autohäusern und Baumärkten.
Nach Angaben von Eucrea, einem Netzwerk für behinderte Künstler, ist die Würzburger Bühne eine von rund sieben Theatern bundesweit, die als Werkstätte für Menschen mit Behinderung fungieren. »Behinderte Menschen sind nicht kreativitätsbehindert«, erklärt Angela Müller-Giannetti von der in Hamburg ansässigen Organisation. »Es geht bei den Theaterprojekten nicht darum, einen behinderten Menschen zu heilen, sondern ihm ein möglichst gutes kreatives, kulturelles Angebot zu machen wie für jeden anderen Menschen auch.«
Dabei sei es vor allem die Authentizität der Schauspieler, die den Zuschauern auffalle, sagt Merk. »Die Menschen merken, was da gerade gespielt wird, ist echt.« Menschen mit geistiger Behinderung hätten weniger Hemmungen, ihre Gefühle zu zeigen. »Sie haben kein Problem damit, nicht der Norm zu entsprechen.«
Anders als im normalen Theater sind die Rollen im Theater Augenblick nah an den Schauspielern angelegt: Die Stücke werden gemeinsam von Leiter Merk, seiner Kollegin Angelika Scheidig und den acht Schauspielern konzipiert. Fünf Bühnenspiele, die abwechselnd immer wieder geprobt und aufgeführt werden, hat das Theater in seinem zwölfjährigen Bestehen geschaffen. »Natürlich können wir nicht Shakespeare machen«, sagt Merk leicht ironisch. »Wir improvisieren viel und entwickeln Stücke aus gemeinsamen Ideen heraus.« Lampenfieber kennen die meisten der Darsteller dabei nicht. »Ich bin ein alter Profi«, sagt etwa Georg Greubel. Der 46-Jährige ist seit den Gründungstagen dabei.
40 Aufführungen pro Jahr
Das Theater liefert nicht nur den Lebensunterhalt für die Darsteller, deren Lohn aus den Eintrittsgeldern finanziert wird; auch der therapeutische Effekt ist gegeben. Sebastian Röder, der das Down-Syndrom hat und seit acht Jahren bei dem Haus ist, sagt: »Wenn man auf der Bühne steht und alles gibt für die Zuschauer, ist das wie Erholung.« Der 29-Jährige lässt seine persönlichen Vorlieben gerne in die Rollen einfließen. Im Stück »ZwischenGleise« fegt er in bayerischer Tracht samt Wanderschuhen jodelnd über die Bühne.
Rund 40 Aufführungen – die Hälfte davon Gastauftritte von externen Künstlern mit und ohne Behinderung – stemmt das kleine Theater auf seiner zehn mal sechs Meter großen Bühne pro Jahr. Auch außerhalb Würzburgs tritt das Ensemble gelegentlich auf. Gefördert wird die Spielstätte, die als Arbeitsplatz für Menschen mit geistiger Behinderung Teil der Mainfränkischen Werkstätten ist, von der Kulturförderung der Stadt Würzburg sowie dem Bezirk Unterfranken.
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