Weltgericht um kostbare Scherben
Im Maxim Gorki Theater Berlin: »Der zerbrochne Krug« von Heinrich von Kleist
Adam kam nackt zur Welt. Der Dorfrichter Adam tut es ihm gleich, taucht hüllenlos im Garderobentrakt des Berliner Maxim Gorki Theaters unter den sich drängenden Zuschauern im Parkettfoyer auf, und hält mit Schreiber Licht ein Privatissimum ab über Herkunft, Aussehen, blutige Wunden am Kopf.
Jan Bosse setzt diesen untergründig heiteren Auftakt seiner Inszenierung von Heinrich von Kleists »Der zerbrochne Krug«. Ein Spaß? Eine Drohung? Beides. Denn was nun geschieht, ist Weltenschöpfung und Weltenzertrümmerung zugleich. Auf der Bühne wird ein Wirtshaussaal mit Stehtischen, bunter Dekoration und Luftballons umgebaut zum seriöseren Gerichtszimmer. Irgendwo im Dörflichen, fast in der Gegenwart, spielt sich das Gewusel ab, befehligt von Veit Tümpel, bei Kleist »ein Bauer«, hier Techniker und Organisator, immer dabei, immer wach und aufmerksam.
Die Menschen, die zu Gericht kommen, von der ersten Reihe des Zuschauerraums hinaufgebeten werden und wieder hinuntersteigen, sind Hauptfiguren in einem großen Spiel des Schicksals. Glück und Liebe, Betrug und Täuschung, Dummheit und Raffinesse sind in diesem Spiel nicht voneinander geschieden.Es ist das Gemenge von deftig Wirklichem, prall Lustigem mit der Angst über die Ungewissheiten des Lebens, das der von einer Produktion des Schauspielhauses Zürich adaptierten Inszenierung ihr einzigartiges Gepräge gibt.
Luftballons zerplatzen, ekle Hinterlassenschaften auf dem Fußboden beschmutzen Schuhe und führen zu Stürzen. Das Wirtshaus brodelt in ständiger Unruhe, Versuche zur Disziplinierung scheitern spektakulär. Aber – nichts mehr vom ländlichen Milieu ist übrig, gackernde Hühner wären völlig unvorstellbar, Frau Marthe Rull rückt mit einem hochmodernen Bildgeber an, um die Scherben des Kruges zu dokumentieren. Auch Mikrofone sind aufgefahren, und das Publikum muss, sollte mitspielen, vielleicht ein wenig lockerer als zur Premiere – Bühnenbildner Stéphane Laimé holt es unverdrossen in einen seiner großen Spiegel.
Denn was da verhandelt wird, ist unser, gar nicht so sehr auf die Spitze getriebenes Leben. Wer ist Täter und wer Opfer, wer darf Anspruch erheben auf Recht und Gerechtigkeit – und vor allem: Wer hat, wer verteidigt die Macht?
Bosse befördert die Kleistschen Figuren in einen Strudel widersprüchlichen Verhaltens. Der Dorfrichter (Edgar Selge): ein Feigling, dauernd auf der Flucht, ein raffinierter Verführer, voll witternder Schläue, ein kindlich Naiver oder gar ein blitzgescheiter Intellektueller? Das wechselt bei Selge, schnell und mit einem Wimpernschlag. Dieser Richter ist immer oben drauf, auch wenn er sich klein macht. Er spielt mit den anderen, beobachtet, lauert, fällt auch mal in schlafwandlerische Abwesenheit, ist dann wieder da, hellwach, grundgütig, absolut böse.
Und der Gerichtsrat Walter (Jean-Pierre Cornu) trägt am Anfang Ekel im Gesicht, hat nichts als Abwehr gegen das (buchstäblich) schlüpfrige Treiben um ihn herum. Cornu schickt dann aber den Gutgekleideten, steif Seriösen auf eine Art Höllenfahrt. Der Walter des Rechts lässt sich mitreißen, provoziert und genießt korruptionsgesättigtes Verhalten, wirft in einer grandiosen Saufszene mit Adam allen Anstand hin. Für ein paar Momente – dann ist der Bebrillte, nun lauernd gefährlich, wieder der ölige, verlogene Staatsbeamte. Im Miteinander und Gegeneinader dieser beiden Männer gibt Jan Bosse die Sicht frei auf eine Gesellschaft, in der wohl Protest und Trotz, gegen die »da oben«, möglich sind und geduldet werden – nur keine Veränderung.
Schauspielerisch ist der Abend überhaupt ein Glücksfall. Die Darsteller bauen Volksfiguren mit Kraft, Temperament und Ironie. Franziska Walsers Marthe Rull, drall, kräftig, gescheit und unbelehrbar stur, nutzt die Scherben des Krugs für eine Anklage von biblischer Wucht. An dieser Frau kommt keiner vorbei. Britta Hammelstein, die Tochter Eve, zeigt das Selbstbewusstsein, aber auch die so gelangweilte wie eifernd glühende Abwehr vor den völlig unverständlichen Erwachsenen. Wolfgang Hosfeld steht als Veit Tümpel wie ein Turm in der Schlacht, Matti Krause haut herrliche Ausbrüche gerechtester Gewalt auf die Bühne, und Ronald Kukulies ist der Schreiber, ein Mann zwischen den Welten, von einer irrlichternd braven Bosheit, der kommende Herr.
Bleibt die Frau Brigitte, sonst eher eine Nebenfigur. Nicht bei Cristin König. Die bringt ein hochgeschossenes, spilleriges Wesen auf die Bühne, »elektrisch« bis in die Fingerspitzen, sich anbietend und vorzeigend, höhnisch, eitel, aggressiv, überdreht. Sollte Deutschland mal die Super-Brigitte suchen – das ist sie. Das letzte Wort dann hat wieder Frau Marthe Rull, und die will, die Zuschauer gehen schon, noch mal von vorn anfangen. »Seht ihr den Krug? Nichts seht ihr, mit Verlaub, die Scherben seht ihr...«
Nächste Vorstellung: 8. April
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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