Gelsenkirchen wird erinnert
Das Ehepaar Jordan möchte die NS-Vergangenheit der Stadt nicht in Vergessenheit geraten lassen
Die Inschrift kann man noch lesen, doch die kleine Gedenktafel im Trottoir ist leicht fleckig. »Das kommt von dem Streusalz«, sagt Andreas Jordan, der sich bückt und mit einem Papiertaschentuch behutsam über den Gedenkstein fährt, um ihn zu säubern. Der Gedenkstein erinnert an den Belgier Charles Ganty, der 1941 auf der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen-Horst Zwangsarbeiter war und am 7. September 1943 wegen Widerstandes gegen die Nationalsozialisten in Plötzensee hingerichtet wurde. Es ist die bislang letzte Gedenktafel, die in Gelsenkirchen verlegt wurde. Einige Stolpersteine liegen noch in der Wohnung von Andreas und Heike Jordan und warten darauf, in das Pflaster eingelassen zu werden. Der kalte Winter und der heftige Frost verhinderten ihre Verlegung im Februar.
»Wir müssen uns alle zehn bereits verlegten Stolpersteine in Gelsenkirchen nach dem langen Winter genau anschauen«, sagt Andreas Jordan. Mit »Wir« meint er sich und seine Ehefrau Heike. Beide engagieren sich für den Verein »Gelsenzentrum«, den sie 2005 gegründet haben. Das Gelsenzentrum ist ein Internetportal für Stadtgeschichte. Der Verein ist mit seinen zehn Mitgliedern zwar sehr klein, dafür arbeiten alle unermüdlich, und die Jordans besonders. Sie suchen Zeitzeugen, die die NS-Zeit in Gelsenkirchen erlebt haben und suchen Angehörige von Opfern der NS-Gewaltherrschaft, um das Gedenken an sie lebendig zu halten.
Anfragen aus aller Welt
Die Jordans haben sich schon immer für die deutsche Geschichte interessiert. »In meiner Jugend lag auf fast jedem Schrottplatz noch ein Stahlhelm herum. Die Nazi-Zeit war da noch nicht so weit weg«, erinnert sich Andreas Jordan. Bei ihren Recherchen stießen sie auf die Arbeit des Kölner Künstlers Gunter Demnig, der seit einigen Jahren Stolpersteine, kleine Gedenktafeln aus Messing, in Handarbeit herstellt – und waren fasziniert. Sie wollten auch in Gelsenkirchen Stolpersteine verlegen, aber es gab keinen Ansprechpartner, keine Institution, die sie unterstützte. »Machen Sie das doch selbst«, wurde Andreas Jordan von Ute Franke, der Projektkoordinatorin des »Stolperstein-Projekts«, aufgefordert.
Und er machte! Zusammen mit Ehefrau Heike kümmert sich Andreas Jordan nicht nur um die Verlegung der Gedenktafeln in Gelsenkirchen, sondern auch darum, dass die NS-Geschichte der Stadt nicht in Vergessenheit gerät. Beide sind Autodidakten und in den letzten fünf Jahren sammelten sie immer mehr Wissen an. In ihrer Wohnung stapeln sich die Akten, die sie von Gleichgesinnten zur Verfügung gestellt bekommen haben. Sie opfern ihre Freizeit, um ihr Projekt zu verwirklichen.
Unterstützung erhalten sie von noch lebenden Zeitzeugen, die oft zum ersten Mal von ihrem Schicksal berichten. Auch ihre vielen jüdischen Freunde bestärken sie. Hilfe erhalten sie ebenfalls vom Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, das ihre Forschungsergebnisse auf sachliche Richtigkeit überprüft.
Der Verein erhält Anfragen aus aller Welt, Angehörige von NS-Opfern schicken Dokumente, die sie jahrelang aufbewahrt und manchmal sogar versteckt hatten. Die große Akzeptanz ihrer Arbeit erstaunt die Jordans sehr. »Wir nehmen nur selten selbst Kontakt zu Zeitzeugen auf. Meist sind diese über unseren Internetauftritt auf unsere Arbeit aufmerksam geworden und sprechen uns an«, sagt die Projektleiterin Heike Jordan. So kam auch der Kontakt zur den Holocaust-Survivors aus den USA zustande.
Die Emigranten aus Deutschland treffen sich dort in Übersee regelmäßig und tauschen sich aus. Hermann Neudorf ist ein solches Mitglied der Gelsenkirchener Survivor-Gruppe. Die Familie Neudorf hatte vor 1938 in der Markenstraße in Gelsenkirchen-Horst ein Bekleidungsgeschäft. Sie wurde enteignet, deportiert und ermordet. Hermann Neudorf überlebte als Einziger. Über ihn kam auch der Kontakt der Jordans zu Ed Silverberg zustande, der ebenfalls zur Gelsenkirchener Survivor-Gruppe gehört. Der 78-jährige Silverberg war ein Jugendfreund von Anne Frank, die 1945 im KZ Bergen-Belsen starb. Er hatte das jüdische Mädchen während eines Aufenthalts in Amsterdam kennengelernt. Über 60 Jahre hatte er kein Wort Deutsch mehr geredet, bei dem Gelsenkirchener Ehepaar setzte er sich über das selbst ausgesprochene Verbot hinweg.
Ausgezeichnetes Projekt
Die Arbeit der Jordans und ihres Vereins wurde auch von offizieller Stelle honoriert. Im letzten Jahr wurde das Ehepaar im Landtag geehrt. Zudem wurde das Projekt im bundesweiten Wettbewerb »Aktiv für Demokratie und Toleranz 2009« des Bündnisses für Demokratie und Toleranz ausgezeichnet. Außerdem wurden für Andreas Jordan im »Wald deutscher Länder« in Israel nahe der Stadt Beerscheba in der Negev-Wüste zehn Bäume gepflanzt – als Anerkennung für die unermüdliche Aufarbeitung der NS-Geschichte.
Das Gelsenzentrum möchte seine Arbeit noch ausdehnen. »Es ist wichtig, dass man der NS-Opfer in Gelsenkirchen weiterhin gedenkt. Dadurch, dass die NS-Verbrechen in der eigenen Stadt aufgezeigt werden, wird das Verbrechen anders wahrgenommen. Es fand vor der eigenen Haustüre statt. Wir wollen zeigen, dass diese Untaten zur eigenen Geschichte dazugehören«, so die Projektleiterin.
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