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Von wegen nichts gewusst
Karl Brandt – wahrlich kein »anständiger Nazi«!
In Ernst Klees »Personenlexikon zum Dritten Reich« ist über Karl Brandt, ranghöchster Mediziner des faschistischen Deutschland, u.a. notiert: 1932 NSDAP, 1933 SS, zuletzt Obergruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS, ab 1934 Hitlers chirurgischer Begleitarzt, 1939 mit Bouhler (SS-Obergruppenführer) Hitlers »Euthanasie«-Bevollmächtigter, verantwortlich für Massenmord an Kindern, April 1944 auch Generalkommissar für Kampfstoff-Fragen (chemische Kriegsführung), 1944 Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen (Oberste Reichsbehörde), Todesurteil am 20. August 1947 im Nürnberger Ärzteprozess, Hinrichtung 2. Juni 1948 in Landsberg.
Ulf Schmidt, Medizin- und Wissenschaftshistoriker, Professor für Moderne Geschichte an der Universität Kent, Canterbury (Großbritannien) hat diese kargen Daten »mit Leben« (und Tod der Opfer) gefüllt. Ziel seines 2007 bereits in London und nun auf Deutsch vorliegenden umfangreichen Werkes (mit allein 150 Seiten Anmerkungen) ist erklärtermaßen, »die Bewertung Brandts als ›anständiger Nazi‹ in der Historiografie grundsätzlich in Frage zu stellen und eine der mächtigsten Figuren des Dritten Reiches kritisch zu beleuchten«. Dazu betrachtet er das Leben dieses Mannes von der Wiege bis zur Bahre.
Brandts Lebenslauf, konstatiert Schmidt schon im Prolog, passe »schlecht zum Bild betrunkener und skrupelloser Nazianhänger« und habe »auch wenig gemein mit den fanatischen Ideologen, SS-Einsatzgruppen und Massenmördern, die die systematische Ausrottung der europäischen Juden in den Ostgebieten organisierten oder mit dem Großteil des medizinischen Personals und Verwaltungsangestellten, die das Euthansie-Programm planten und durchführten«. Nein, der exzellente Mediziner, der eloquente, karrierebewusste Brandt hat sich die Hände nicht selbst blutig gemacht, hat nicht mal all das in schriftliche Form gebracht, was auf seine Anweisung und in seiner Verantwortung an Massenmorden in den Kranken- und Heilanstalten, an grauenvollen Versuchen an KZ-Häftlingen (Gelbfieber-, Senfgas-, Sulfonamidversuche, Experimente zur biologischen oder chemischen Kriegsführung) in Sachsenhausen, Dachau und Buchenwald unternommen worden ist.
Dem von der »Unwertigkeit« kranker, behinderter oder nicht in das faschistische rassistische Weltbild passenden Menschen zutiefst überzeugten Emporkömmling mit »charismatischer Autorität« reichten Andeutungen, nebenbei fallengelassene Hinweise auf Gespräche mit dem »Führer«, um die Mordmaschine in Gang zu setzen, seine Untergebene anzutreiben, den »E-Auftrag« (»Euthanasie«) auszuführen. Fast alle Anweisungen und Befehle zur Tötung behinderter Patienten gab Brandt mündlich. Schmidt spricht von »distanzierter Entscheidungsfindung« und »distanzierter Kommunikation«, typisch nicht nur für Brandt. »Sie betrieben Massenmord, aber als Verantwortliche wollten sie sichergehen, dass sie nicht rechtswidrig handelten.«
Der Untertitel weist darauf hin, dass es dem Autor um das System in Gänze geht, das Typen wie Brandt an die Spitze der Macht brachte und derartige Verbrechen als Staatspolitik beging. So wird hier die Geschichte der Medizinverbrechen umfassend abgehandelt, garniert mit Einblicken in das Gerangel der braunen Schranzen am »Hofe«, um das Ohr des Führers zu gewinnen. Brandt war dabei einer der Erfolgreichsten.
Im Nürnberger Ärzteprozess (November 1946 bis August 1947) gegen 23 Spitzenmediziner und Ärzte wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnete sich auch Brandt als »nicht schuldig«. Von dem als »Euthanasie« umschriebenen Mordprogramm sei er nach wie vor überzeugt. Wie es aber exekutiert wurde, welche Ausmaße es hatte, welche Verbrechen da begangen wurden, all das sei ihm unbekannt gewesen. Davon habe er nichts gewusst. Sein Schlussplädoyer umfasste drei Bände mit insgesamt 246 Seiten (zwei Seiten weniger als das am 20. August 1947 verkündete Urteil gegen ihn). Brandt, so urteilte das Gericht, war verantwortlich und leistete Plänen Vorschub zur Durchführung medizinischer Experimente, »in deren Verlauf Morde, Brutalitäten, Grausamkeiten, Folterungen und andere unmenschliche Taten begangen wurden«.
Der Leser wird Ulf Schmidt nach der Lektüre dieser Biografie zustimmen: »Wir können es uns nicht erlauben, diesen Teil unserer Geschichte aus dem Auge zu verlieren, denn wir würden dessen Wiederholung nicht überleben.«
Ulf Schmidt: Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich. Aufbau Verlag, Berlin. 750 S., geb., 29,95 €.
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